//___Dass Johann Gottfried Seumes Empfehlung »Wo man singt, laß dich ruhig nieder« in den Fußballstadien dieser Welt nur stark eingeschränkt gilt, lässt schon die bloße Tatsache vermuten, dass auf den Stehplätzen in der Regel am hingebungsvollsten musiziert wird. Müssen wir deshalb aber auch gleich die liebe Annahme aufgeben, Bösewichter hätten keine Lieder?
Zusammen mit dem Musikpsychologen Reinhard Kopiez stellte sich der Musikhistoriker, Tonsetzer und Altphilologe Guido Brink in den 90er Jahren in die Stadionkurven ausgewählter Bundesligastadien, um Feldforschung zu betreiben. Ausgerüstet mit transportablen Aufnahmegeräten und Ohrmikrophonen nahmen sie Fangesänge auf, protokollierten die Aktivitäten der Sänger, transkribierten das Gehörte hinterher in Notentext und werteten das über die Jahre angesammelte Material aus. Die Ergebnisse ihrer Studie veröffentlichten sie in dem sehr gut gelaunten Buch »Fußball-Fangesänge. Eine FANomenologie«, dem auch eine CD mit Beispielen beigefügt wurde. Schließlich, so schreiben die Autoren im Vorwort, handelt es sich um ein klingendes Phänomen. Deshalb schadet es auch nicht, sich Guido Brink während des folgenden Gesprächs ab und an singend vorzustellen.
K.WEST: Herr Brink, wenn ich mich mit einer Trommel auf den Zaun der Südkurve des Rhein-Energie-Stadions setze und beginnen würde, »Co-lo-nia, Co-lo-nia, Co-lo-nia, fanta- sti-ca!« zu singen…
BRINK: …würde man Sie milde belächeln
K.WEST: Aber ich mache letztendlich nichts anderes als ein Vorsänger.
BRINK: Sie stehen aber im Gegensatz zum anerkannten »chant leader« nicht alle 14 Tage im Fanblock. Den Status eines »chant leader« muss man sich verdienen.
K.WEST: Ich habe als gelegentlicher Besucher eines Fußballspiels also keine Chance, mit meinen Liedvorschlägen die Fans zu infizieren?
BRINK: Versuchen Sie es mal mit einem Trick: Stellen Sie sich mit einer Truppe von zwanzig Leuten in die Kurve, die Ihnen dabei helfen, Ihr Lied zu singen. Dann könnte es vielleicht funktionieren.
K.WEST: Was zeichnet einen richtigen »chant leader « charakterlich und stimmlich aus?
BRINK: Selbstverständlich muss er eine kräftige Stimme haben. Wichtig aber ist vor allem, dass er lange dabei ist. Denn die Fans müssen ihm zutrauen, dass er die nötige Erfahrung gesammelt hat um zu wissen, was die Mannschaft braucht. Fans haben ein geradezu unheimliches Sicherheitsbedürfnis. Dauerkarteninhaber stehen alle zwei Wochen am gleichen Platz, haben die immergleichen Leute um sich herum. Dazu kommt die Verkleidung durch die Kutte und das Gefühl, in der Masse aufgehoben zu sein. All das gibt dem Fan so viel Sicherheit, dass er mitsingen kann.
K.WEST: Das klingt nach einer sehr ernsten Angelegenheit.
BRINK: Wenn wir in die Kirche gehen, ist das doch auch eine ernste Sache. Im Stadion werden die Fußballgötter angerufen und beschworen. Der Stern von Borussia ist für die Fans doch etwas viel Aktuelleres, Bedeutenderes als der Stern von Bethlehem. Fußballfans stehen mindestens alle vierzehn Tage im heimischen Block. Nur wenige Kirchgänger kommen noch auf eine derartige Frequenz. Fußball ist für viele Menschen Religion. Eine Mannschaft im Stadion anzufeuern kostet nicht nur einen Haufen Geld, es ist harte Arbeit. So mancher »chant leader« steht fast die ganzen 90 Minuten mit dem Rücken zum Spiel, sieht also nichts.
K.WEST: Welche Funktion hat das Singen im Stadion?
BRINK: Fangesänge haben mehrere Funktionen: Selbstdarstellung als Gruppe, Unterstützung der eigenen und Diffamierung der gegnerischen Mannschaft, selten kommen auch Sachaussagen vor.
K.WEST: Das offizielle WM-Lied 2006 heißt: »Time of our lives«. Wir groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch die Fankurven dieses Stückes annehmen werden?
BRINK: Wer hat jemals eines dieser offiziellen Lieder wie »Fußball ist unser Leben« (1974) oder »Buenos dias Argentina« (1978) oder „Mexico mi amor“ (1986) in der Südkurve von alleine angestimmt? Fußballfans reagieren spontan und lassen sich ungern Lieder verordnen. Rein statistisch gesehen lässt sich für die bevorstehende WM prognostizieren, dass »Time of our lives« kein Fankurven-Hit wird.
K.WEST: Welche Tipps können Sie denn künftigen Komponisten von offiziellen WM-Liedern geben, damit deren Produkte auch im Stadion ankommen?
BRINK: Hilfreich ist, wenn das Lied in Dur steht. Die allermeisten Fanlieder haben eine gerade Taktart, ähnlich dem Pop und der Marschmusik. Das heißt aber nicht, dass es überhaupt keine hymnischen Lieder im 3/4 Takt gibt. »Amazing grace« beispielsweise ist ein ideales Lied für das »Schalspann-Ritual« am Ende eines gewonnenen Spiels. Es schadet auch nicht, wenn die Lieder periodisch gebunden sind. Häufig findet sich in Fangesängen auch das Terz-Quint-Sext-Modell wie beispielsweise in »Ich bin ein kleiner König«, das in seiner Leiermelodik Kinderliedern und Abzählreimen entspricht. Zusammenfassend lässt sich sagen: Fans wählen in der Regel das Schlageruntypische aus.
K.WEST: Also nicht die Musik, mit der die Radiosender die Pausen von Fußballsendungen füllen. Ich hätte vermutet, dass es Schlagermelodien sind, die Eingang in das Gesangbuch des Fans finden. Warum ist das nicht so?
BRINK: Typisch für den deutschen Schlager der 70er Jahre sind Merkmale wie die große Sexte, Synkopen, ein nach unten abgebogener Leitton. Diese Elemente sind viel schwieriger zu singen als beispielsweise die glatte Melodie eines gregorianischen Chorals oder Musik des 16. Jahrhunderts. Fangesänge sind sogar der Vokalmusik der Renaissance in einem Aspekt auf verblüffende Weise verwandt: Auch diese lässt nur Melodiebildungen zu, die leichte, flüssige Singbarkeit garantieren. Wenn Zehntausende ohne Dirigenten zusammen Lieder singen sollen, dann müssen sie von ihrer Struktur her spielend leicht zu singen sein – wie es eben auch Kinderlieder sind.
K.WEST: Auch die unausgebildete Stimme ist vermutlich ein wichtiges Ausschlusskriterium?
BRINK: Die unausgebildete Stimme legt den Tonraum nach oben fest. Diese Grenze verläuft in der Regel beim f ’, maximal g’. Bis dahin kommt ein unausgebildeter Sänger mit seiner Bruststimme, wenn er noch eine stadiontaugliche Lautstärke produzieren möchte. Geht er darüber hinaus, schlägt er um in die Kopfstimme. Das klingt eunuchenhaft, also genau so, wie sich ein Fan nicht anhören möchte. Schließlich möchte er dominant, mächtig und männlich wirken.
K.WEST: Seit wann wird in Fußballstadien gesungen?
BRINK: Es gibt hier leider keine verlässliche, weit zurück reichende Überlieferung. Aus den 60er Jahren ist aus England belegt, dass die Fans Gerry and the Pacemakers’ Hit »You’ll never walk alone« gesungen haben. Ein wesentlicher Grund für die Herausbildung von Fangesang scheint mir die massenmediale Verbreitung und damit verbunden die Omnipräsenz von Musik nach dem zweiten Weltkrieg gewesen zu sein. Denn permanente akustische Verfügbarkeit scheint mir eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Fangesang zu sein.
K.WEST: Aus welchem musikalischen Fundus bedienen sich die Fans?
BRINK: Das ist nicht kalkulierbar. Viele etablierte Fangesänge greifen auf angloamerikanische Traditionals zurück wie »Oh, when the saints« oder »Over in the Gloryland«. Seltener auf aktuelle Popmusik, weil die Struktur dieser Musik den Anforderungen des Stadiongesangs nicht entspricht. Was im Stadion gesungen wird, hängt aber auch von der musikalischen Umgebung der Fans ab: Welches Radioprogramm hören sie? Was sehen sie im Fernsehen? Was haben sie für Platten im Schrank? Dazu kommt die stadionimmanente Tradierung. Kein Mensch singt heute mehr »Wir lagen vor Madagaskar«, aber »O – lé, FCK« kennt seit Jahren jeder Fan des 1. FC Köln. Dabei wissen die Fans häufig kaum noch, woher die Gesänge ursprünglich stammen.
K.WEST: Wenn die Musik zur Fankultur passen muss, damit sie ins Fankurven-Repertoire eingehen kann, was verrät die Wahl der Gesänge dann über den Typus »Fan«?
BRINK: Fankultur war ursprünglich ja eine Art Antikultur. Die Leute auf den billigsten Plätzen definierten sich über diese Form von Antikultur. Dabei war ein Gefühl von Macht wohl nicht ganz unwichtig: die Mannschaft anzufeuern, das Gefühl zu haben, das Spiel beeinflussen zu können. Mit einem großen Augenzwinkern könnte man vielleicht sagen: »Böse Menschen haben viele Lieder.« Natürlich sind die Menschen nicht wirklich böse. Sie wollen nur, dass ihr Verein gewinnt. Und dafür sind sie bereit, eine ganze Menge zu unternehmen: gesanglich, stimmlich, inhaltlich. Solange sie das Gefühl haben, dass es ihrem Verein helfen könnte.
K.WEST: Bis hin zur groben Beleidigung.
BRINK: Nicht nur beim 1. FC Köln ist es üblich, dass man beim Abstoß des gegnerischen Torwarts »Arschloch, Wichser, Hurensohn« ruft. Von solchen Äußerungen sollte man allerdings nicht auf den ungebildeten Pöbel schließen, denn sie erklären sich aus der Situation heraus. Aus Untersuchungen wissen wir, dass nicht wenige der Stadiongänger Abitur haben. Dieser Anteil ist seit den 70er Jahren übrigens stetig gestiegen.
K.WEST: Und die schreien dann auch?
BRINK: Auch die schreien »Arschloch, Wichser, Hurensohn.« Sie müssen das machen. Wenn Sie im Fanblock stehen und nicht schreien, machen Sie etwas falsch.
K.WEST: Wirken die Fangesänge eher regulierend oder verstärkend auf die Bereitschaft zur Aggression?
BRINK: Wir haben im Zusammenhang mit dem Spielverlauf festgestellt, dass immer dann gesungen wird, wenn das Spielergebnis entspannend wirkt, also bei klaren Ergebnissen. Wenn es zu spannend ist, kann man nicht singen, weil man im wahrsten Sinne des Wortes die Luft anhält. Natürlich transportieren viele Gesänge Aggressionen. Früher waren solche Gesänge auch Ausgangspunkt von Handgreiflichkeiten. Von Tacitus ist eine stattliche Schlägerei zwischen Zuschauern eines Gladiatorenkampfes im Amphitheater von Pompeji im Jahre 59 n. Chr. überliefert. Wir haben in unserer Untersuchung allerdings auch festgestellt, dass das Anfeuern eher über Rhythmen, Kurzgesänge und Rufe stattfindet. Solange die Fans singen, prügeln sie sich nicht. Wenn sie rhythmisiert skandieren, könnte es eher gefährlich werden. Das ist wissenschaftlich aber nicht bewiesen.
K.WEST: Dann könnte man zusammenfassen: Böse Menschen haben viele Lieder, solange sie aber singen, schlagen sie sich nicht.
BRINK: Unter dem Vorbehalt, dass diese Menschen nicht wirklich böse sind, sondern nur für ein paar Stunden in die Rolle des dumpfen Fans schlüpfen, wäre das eine Hypothese.
K.WEST: Welche Rolle spielen Diskriminierungen in den Gesängen?
BRINK: Sie sollen den Gegner verunsichern, egal ob die Gesänge nun auf die Mannschaft als ganzes, einzelne Spieler, insbesondere den Torhüter, oder die Fans zielen.
K.WEST: Vielen Fußballfans wird gemeinhin eine rassistische Neigung zugeschrieben. Wenn das stimmt, sind die Diffamierungen nicht vollkommen beliebig.
BRINK: Rassistische Gesänge sind mir in der letzten Zeit immer weniger aufgefallen. Die deutsche Presse und viele Fanclubs reagieren in dieser Hinsicht glücklicherweise mittlerweile sehr empfindlich. Nachdem die Fans in der Bayern-Kurve beim Stand von 2:0 während des Spiels gegen Besiktas Istanbul 1997 alle zugleich ALDI-Tüten hochhielten und »Ihr könnt nach ALDI fahr’n« sangen, gab es eine Welle der Empörung. Ohne diese Aktion beschönigen zu wollen, würde ich dabei nicht unbedingt auf einen rassistischen Hintergrund schließen. Denn letztendlich ist den Fans jedes Mittel recht, um die Schwachstelle eines Gegners zu finden.
K.WEST: Dann sind solche Diffamierungen nicht Ausdruck einer wie auch immer gearteten Weltanschauung?
BRINK: Ich könnte mir vorstellen, dass Fans möglicherweise auch »Nazi-Schwein« rufen würden, wenn sie in einer bestimmten Situation glauben, ihrer Mannschaft dadurch helfen zu können – indem sie den Gegner oder seine Fans diffamieren.
K.WEST: Warum wird beim Fußball mehr gesungen als bei anderen Sportarten?
BRINK: Die Struktur eines Fußballspiels bietet genügend Leerlauf, damit gesungen werden kann. Meist ist ein Fußballspiel Mitte der zweiten Halbzeit entschieden, was für das Singen sehr günstig ist. Vor allem neue Lieder werden direkt nach entscheidenden Toren gesungen. Zuletzt habe ich das im Spiel Köln gegen Duisburg in dieser Saison erlebt. Als das Spiel entschieden war, hat der FC-Block in die Repertoire-Kiste gegriffen und sechs Lieder hintereinander weg gesungen, die sie vorher noch nicht gebracht hatten.
K.WEST: Anders als die Fans denken, beeinflusst das Singen nicht das Spiel, sondern der Spielverlauf das Singen?
BRINK: Profifußballer sagen natürlich gern, dass ihre Fans positiven Einfluss auf das Spiel haben. Das ist aber wissenschaftlich leider nicht bewiesen. Wann und was Fans singen, oder wann sie nur klatschen – alles das hängt vom Spielverlauf ab. Kaiser Franz soll ja ein Spiel »lesen« können. Ich kann ein Spiel »hören«. Ohne hinzusehen kann ich Ihnen anhand des akustischen Spielverlaufs auf den Rängen ziemlich genau sagen, was passiert ist.
K.WEST: Dann ist die WM für Sie vor allem ein Hörerlebnis?
BRINK: Ich werde genüsslich vor dem Fernseher sitzen und versuchen, auch auf das zu hören, was hinter der Kommentatorenstimme abläuft. Bleibt zu hoffen, dass die Sender viele Außenmikrophone verteilen und die Kommentatoren mal wieder so kommentieren, wie seinerzeit Ernst Huberty in den 70er Jahren: »Breitner … Müller … zurück zu Overath … Müller … Tor!« Das reicht doch. Auf alles, was darüber hinausgeht, könnte ich für mein Teil gut verzichten.
Reinhard Kopiez & Guido Brink: Fußball-Fangesänge. Eine FANomenologie, Königshausen & Neumann. 20,50 €