Die einst geheimnisvolle Wundertüte Molekularküche mit ihren Zaubertricks aus den Labors der Nahrungsmittelindustrie breitet sich urknallartig aus. Ihre surrealistischen Gebilde, in der Haute Cuisine gelandet wie Ufos aus fernen Galaxien, werden längst durch die Medien genudelt. Noch vor kurzem gab es helle Aufregung über die unerhört küchenrevolutionären Aufführungen ihres Erfinders Ferran Adria. Nur Auserwählte bekamen einen Tisch beim großen Gäste-Verblüffer. »How do you eat it?« freuten sie sich angesichts der elastan-elastisch dekonstruierten und Stickstoffnebel-umwaberten Werke. Bevor sie beherzt zu Spritzen und Pinzetten griffen, Butter-Öl-Paste aus der Handcremetube aufs Brot drückten und Fischsuppe und Creme Catalana simultan durch zwei Strohhalme nuckelten. Sodann die Zuckerwatte-Würmer von karamelisierten Sardinengräten wickelten, sich die Soße mit der Pipette in den Mund spritzten. Schließlich den Olivenöl-Methylzellulose-Kleister aus der Kanüle in die Dashisuppe drückten.
Heute stockt keinem mehr der Atem. Fast schon sind die Laborküchen-Gags alte Kamellen. All die bunten Gels, Gelees, Wabbel-Jellies und Gemüsesaft-Gummiwürfel. Die Espuma-Schäu-me und die Käse-Luft aus dem Einweichwasser von Parmesan. Die Fleischpüree-Sorbets und pulverisierten Gänselebern. Die Mozarella-Sphären, Aalpüree-Lutscher vom Teppan-Nitro-Käl-te-Grill und der Aroma-Rauch in Zuckerglas-Kugeln auf Hühnerbrust-Eis. »Für Stammgäste wird es mit der Zeit langweilig«, gestand jüngst der deutsche Molekularkoch Juan Amador, der gerade seinen dritten Stern bekam.
Aber die Molekularküche wird wieder abenteuerlich werden. Wenn die Hobbyköche zuhause pH-Meter, Ultraschall-Surger und den Rotationsverdampfer zur Aromen-Fraktionierung anschmeißen. Und am heimischen Pacojet, Gastrovac und Dehydrator alles, was auf ihre Silikonmatte gerät, Gemüse, Fisch, Fleisch, gelifizieren, emulsifizieren, sferifizieren sowie – das Neueste – liofilisieren und aus ihrem »Texturgeber«-Chemiebaukasten löffelweise Stabilisatoren, Hydrokolloide, Gelier-, Binde- und Verdickungsmittel von E 475 (Polyglycerinester) bis zu E 4141 (Phosphatiertes Distärkephosphat) in ihre Basis-Breie zentrifugieren.
Nach Lage der Dinge ist Nordrhein-Westfalen vorn mit dabei. Zwei Molekular-Popularisierer kommen aus NRW. Der Dortmunder Sternekoch Heiko Antoniewicz hat nicht nur kürzlich Molekulare Cocktails vorgestellt – der Trend in den Bars. Spooncocktails aus Aperol-Kügelchen, Sellerieluft auf Bloody Mary, Whiskey Sour mit fluoreszierenden Gels. Antoniewicz macht zudem in Seminaren mit diesen Segnungen vertraut.Unterstützt vom hiesigen berühmtesten Feinkostlieferanten, der Firma Bosfood in Meerbusch, die ein Kompetenzzentrum aufbaut. Via Internet (www.bosfood.de) bekommt man die Zauberpulver und -zuber, ohne die nichts gart.
Die Preise bieten superbe Verblüffungseffekte: der »Straining Löffel Ferran Adrià« für saftige 60 Euro, das Spritzenbank-Set zu rund 267 Euro und die »Julabo Sous-Vide-Wanne« 1561,88 Euro. Unter den 60 Zutaten überrascht etwa E 480 Gellan für satte 156,19 Euro/kg. Transglutaminase, Fleischkleber kostet rund 112 Euro, aber auch mit GelBurguer aus Natriumalginat, Kalziumsulfat und Diphosphat für 46 Euro lassen sich Fisch- und Fleisch-Streifen aneinanderkleben.
Das alles muss teuer sein, denn die Molekularküche ist eine Geschäftsidee der Nahrungsmitteltechnologie-Konzerne. Die haben sich vor geraumer Zeit, unterstützt vom EU-Projekt Inicon, (Hobby-)Köche ausgeguckt als Absatz-Markt für Zusatzstoffe und Hightech-Laborgeräte. Aber, wie gesagt, mit dem Technologietransfer warten ungeahnte Abenteuer auf die boomende Kochlust. Wie aufregend etwa, wenn der Molekularklassiker »Weiße Schokolade mit Kaviar« schmeckt, als wäre alter Fisch ins Dessert geplumpst; der mit reichlich Xanthan fabrizierte »Schwebende Sangria« wie Kuhfladen aussieht; die – mit Schutzbrille, Schutzweste, Handschuhen – im minus 197 Grad Celsius kalten Flüssigstickstoffbad schockgeeisten Sorbets etwas zu groß geraten, die Gäste nicht nur wie Drachen aus der Nase dampfen, sondern der Happen im Mund soviel Druck entwickelt, dass die Masse eisig herausschießt. Und ob es so magisch ist, wenn Geleekügelchen für Melonen-Kaviar Verätzungen am Gaumen hervorzaubern, weil sie nach dem Kalziumchlorid- oder Sodiumalginat-Bad nicht gründlich abgewaschen wurden? Spannend ist auch die Frage, ob sich beim Sous-Vide-Garen von Fleisch (60–72 Stunden bei 50 Grad im Hold-O-Mat) lebensgefährliche Bakterien entwickeln.
Allerdings gäbe es Verblüffungseffekte auch ohne High-Tech. Einer der originellsten Cocktails kommt aus der Vergangenheit, aus einer Hotelbar im portugiesischen Macao. »Sledgehammer« hieß er. Geht ganz einfach. Die Getränkekarte warnte damals: »Der Barmann gießt die Ingredienzien direkt in Ihren Mund und schüttelt dann Ihren Kopf.« //