TEXT: ULRICH DEUTER
Der Landarzt Platon I. Garin, im Gepäck die Vakzine, ist auf dem Weg ins abgelegene Dorf Dolgoje, denn dort wütet eine Epidemie. Stündlich steigt der Schnee, sinkt das Tageslicht. Weil die Poststation Dolbeschino keine Pferde zum Wechseln hat, gerät Garin an den Brotfahrer Kosma, genannt Krächz, der »ein Mobil« besitzt. Für fünf Silberrubel, vielleicht auch aus Gutmütigkeit, willigt Krächz ein und macht sein Gefährt reise-fertig, einen Schlitten, gezogen von 50 prächtigen Rossen aller Couleur, doch winzigen Wuchses: »Keines der Pferde war größer als ein Rebhuhn.« Geschickt platziert der Kutscher die Tierchen vor oder ins Innere des Fahrzeugs, unter die »Kaube«. Und so wie dieses Wort nur einen Anklang auslöst an Bekanntes, Vorhandenes, so ist Sorokins ganze Erzählung Erinnerung und Echo: an ein ewiges Russland, so zeitlos wie ortlos weit, mit Figuren und Situationen wie von Tolstoi bis Tschechow. Unabänderlich ist der Winter, unerreichbar jedes Ziel in der Weite des Landes, eitel alles Vorankommenwollen. Schon bald verliert der Schlitten den Weg, löst der fallende Schnee, der ein Zustand ist, kein Wetter, alle Konturen auf. Wie selbstverständlich kann man in diesem retrofuturistischen Land aus lebend gebärendem Filz Hütten bauen und dreistockwerkhohen Pferden begegnen, aber auch einem gestürzten Riesenmenschen, in dessen Nasenloch sich das Fuhrwerk festfährt und die Kufen bricht.
Schon früh (perfekt in »Roman« von 1989) hat Sorokin gezeigt, dass sich der Realismus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts mit einer wüsten, postsozialistischen Fantastik koppeln lässt; in »Der Schneesturm« ist letztere auf wenige Irrwitzigkeiten reduziert, die dafür umso selbstverständlicher erscheinen. Bis hin zu perfekt organisierten Chinesen, die die letale Ermattung von Doktor und Krächz für ihre Zwecke zu nutzen wissen. Dies alles wäre eine politisch gesprenkelte Räuberpistole, verfügte die Sprache Sorokins nicht über eine Beglaubigungskraft, die mit jedem Satz zu sagen weiß: So ist es. Wird es immer sein.
Vladimir Sorokin: »Der Schneesturm«, Roman, aus dem Russischen von Andreas Tretner, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 208 Seiten, 17,99 Euro
Lesung am 19. November 2012, Literaturhaus Köln, Schönhauser Str. 8