Die Puppe in der Puppe in der Puppe: Das ist die Methode einer Spätzeit, des Nachhinein, der Verwertung des einstmals Ursprünglichen. Baz Luhrmann ist ihr Prophet – darin auch ein anderer Andy Warhol. Er verwandelt die Revolte in die Revue. Shakespeares himmelhoch jauchzende, todesfrühe Liebe von »Romeo und Julia« wird ihm zum Miami-bunten Mafia-Gangsterdrama, »Moulin Rouge« und der Skandal sich ausstellender Sexualität zu einem Knallbonbon erotischen ‚Erlaubt ist, was gefällt’, Scott Fitzgeralds tief dunkler, amerikanischer Abschiedsroman »Der Große Gatsby« zum Karneval der Lüste.
Kein Star der Popkultur, die Beatles und Mick Jagger eingeschlossen, hat die Alte Welt, die 1945 durch den Zweiten Weltkrieg bereits politisch und moralisch radikal verändert war, mehr durcheinander geschüttelt und erschüttert, als zehn Jahre später Elvis Presley. Er mischte die Farben Schwarz und Weiß neu, brachte mit dem Schwung seiner Hüften und dem Dreh des Beckens den Sex auf die Bühne und verführte die Jugend dazu, vom Baum der Erkenntnis zu kosten, auf dass es das Paradies der Eltern mit anderen Augen sähe und sich lieber die eigene Lusthölle bereitete: der Musik, der Drogen, des ‚Make love not war’. Er selbst war »the forbidden fruit«, wie es in Luhrmanns Film heißt, nach der Millionen Arme sich ausstreckten. Muss dann nicht ‚Colonel’ Tom Parker die Schlange gewesen ein, die das Früchtchen gezüchtet hat? Seine Karriere aufbaut, stark macht, vermarktet und ausbeutet, manipuliert und demoliert.
»Elvis« ist angelegt als Traumreise, Rechenschaftsbericht und Todesfantasie des alten Promoters und Manager-Mephisto, dem sich von Anfang bis Ende die Geschichte seines Schützlings – seines Geschöpfs – noch einmal abspult. Tom Hanks, der gute Kerl und beste Freund des amerikanischen Kinos, spielt ihn in zu engen Jacketts wie eine massig monströse Wachsfigur aus der Hall of Fame.
Pas de Deux mit dem Mikrofonständer
Das ist nur eine der dramaturgischen Verpuppungen des zweieinhalbstündigen Films, der – exaltiert und elegisch – eben immer auch erzählt von Transformation: eines Einzelnen und der Gesellschaft. »Ready to fly«. Übrigens auch als Musikfilm davon erzählt, in dem die originalen Presley-Songs und ihre Interpretation durch x Cover-Versionen vom Soul und Punk in den Soft-Spülgang, von Hip-Hop und Rap und Retro-Look gegangen sind und weiter gehen und von dem Eklektiker Luhrmann auf dem Soundtrack so präsentiert werden. Wie wenn in der Kunstgeschichte ein ikonografisches Motiv durch die Epochen und Stilformen wandert. Und so wie der Revoluzzer in schwarzem Leder im zeitlichen Rodeo seines Rock’n’Roll zur Maske des Nationalhelden hinter dem Oval seiner Sonnenbrillen wird.
Bewegung und Berührung: Da ist der Junge und Muttersohn aus dem Süden, Tupelo, Mississippi, der sich mit staunenden Augen ins Zelt eines schwarzen Gottesdienstes schleicht und gemeinsam mit dem Reverend und der Gemeinde zum Gospel-Gesang in Ekstase gerät. Da ist der skinny boy im pinkfarbenen Anzug auf der Bühne vor dem arglos abwartenden Publikum aus Teens und Twens, die Treu’ und Glauben verlieren, als er mit einem »Well« los röhrt, während die Falten der Hose seinen Schritt umspielen.
Das pomadisierte lackschwarze Haar mit der ungebärdigen Schmachtlocke, die zu vollen Lippen, rot wie Himbeeren, die wie gemalten Augen, der erotische Pas de Deux mit dem Mikrofonständer, das Hand-Anlegen auf die Gitarre – die Polizei marschiert im Hundert auf, um die Masse zu bändigen. Austin Butler spielt Elvis in heroischer Identifikation und nahe bis zur parodistischen Travestie. Wenn für diese Performance kein Oscar als Prämie wartet, würde Hollywood sein sich selbst gegebenes Gesetz brechen.
Himmelreich und Höllenpfuhl
Da ist die Ikone des Rock’n’Roll, der in einem dieser wilden, kreischenden summer of love – 1968 – die Nachricht von den Schüssen auf Martin Luther King und JFK erhält und gleichzeitig sein Comeback (eines von mehreren) vorbereitet und der sich unter den maroden Buchstaben des riesigen Schriftzugs Hollywood in den kalifornischen Hügeln ans Showbusiness verkauft. Das eine Amerika und das andere: das rassistische, kriegerische, brutal kapitalistische, glaubensmächtige und das anarchische, freiheitsfanatische, die Traummaschine für die ganze Welt anwerfende – sie sind nicht teilbar. Und da ist der King, der zum Koloss mutiert und mit Las Vegas um die Wette glitzert, nachdem er sich vom Mangel in den Überfluss und die Übersättigung gewandelt hat, von drugs and candys, vom Ruhm und seinem Schattenwurf außer Form geraten. Graceland hat er sein Anwesen genannt – einen Gnadenort. Die Revolte der Musik und ihres Sensations-Darstellers, der nur 42 Jahre alt wurde und starb wie Citizen Kane in seinem Xanadu, waren für die einen das Himmelreich und für die anderen der Höllenpfuhl. Presley brannte zwischen beiden Extremen lichterloh und brannte aus. Von hier aus in die Ewigkeit, das gilt für den realen Elvis Presley und für Baz Luhrmans illuminierte Fiktion und Heiligsprechung.
»Elvis«, Regie: Baz Luhrmann, USA 2022, 158 Min., Start: 23. Juni