TEXT: ULRICH DEUTER
Minna, 51. Einst zu früh auf die Welt und danach in dieser nie angekommen. »Anstelle der Mutterbrust Rheinkiesel«, auf die man, erwärmt, das Frühchen legte. Der kleine Finger zurückgeblieben, Klavierspielen unmöglich, die Hand »zu kurz für eine Oktave«: für die ganze Strecke also. Ihr »Körper eine einzige Vermisstenanzeige«. Nach einem Zusammenbruch, einem Selbstmordversuch vielleicht, aber hat sie erquickende Wochen in einem toskanischen Agriturismo verbracht, von irgendwoher ist Vico erschienen, ein Philanthrop, der gibt, wovon er viel hat. Als Bedingung für künftige monetäre Versorgung wünscht er sich nur, dass Minna mit ihrem Talent wuchere, dem zur Glücks-missionarin. Wie geht das? »Nicht zu viele Wortspiele!«
Denn Vico, schreibt Minna, schreibt die Romanautorin und Lyrikerin Leupold, weiß: »Ich liebe das. Er versteht einfach nicht, wie verlockend die Zungenfertigkeit der Worte ist. Ein Schmelz, ein Schmecken und Schlürfen! Wer keine Religion hat, muss sich andere Rettungen erfinden.« Wie schreiben. Wie einen Roman schreiben – einen, der davon handelt, wie Eine die Knäuel ihres Lebens durch Schreiben falten, sorgsam Kante auf Kante legen und Falten durch Streichen glätten kann. Geschieht dies alles? Will sagen: Ist das Buch Minnas Rückblick und Bericht? Auf jeden Fall wird etwas er-schrieben: Minna lernt, zurück in München, Lotte kennen, Lotte aus Quilitten in Ostpreußen, über 80, auch eine Vertriebene, die sich mit Gabardine-Hosen und stets fester Frisur, Häuschen und Tiersendungengucken abgeschirmt hat. Und nicht wie Minna durch den komischen Blick auf das eigene Unglück, durch die unvernünftige Vermischung von Gestern und Heute, Traum und Sehnsucht, durch das Spiel mit den Goldstäubchen der Worte, durch das völlige Fehlen von Ehrgeiz beweglich gemacht hat wie eine Dose im Wind.
Dagmar Leupolds Romane kommen immer mit wenig Personal aus, das aber ist dem Leser so dicht vor der Nase, dass er es beinah riecht. Unter der Hand tauen die beiden Frauen aneinander auf, rückt Minnas Nachhilfeschüler Parwiz aus dem Dunkel pubertärer wie migrantischer Verstocktheit in liebevolles Licht und sprachliches Vermögen (»Deutsch hat einen dicken Hintern, -ung, -heit, -keit«), rutscht Minnas »Naherholungsgebiet« Franz schmerzlos aus dem Bett und ereignet sich das Nichtmehrerwartete: Liebe. Heinrich! Dann wird von Nähe und Innigkeit erzählt, geradeaus und völlig postkartenkitschlos: »Gepaart. So einfach, so richtig, so schwierig.« Und: »Liebe macht sehr sterblich.« Kann sein, wer zu früh auf die Welt kam, überlebt sie nicht.
Dagmar Leupold: »Unter der Hand«; Jung und Jung Verlag, Salzburg 2013, 289 Seiten, 22 Euro.