TEXT: ANDREAS WILINK
Alles Vorstellung. Alles Verstellung. Alles Theater. Und Kunst. Schon der Raum, ein schwarzer Kasten, dessen Kanten von weißen Linien abgesetzt sind. Später, wenn der Alte von seiner »Botschaft« faselt, leuchten sie neonhell auf wie Markierungsstreifen. Ein pathetisch-ironisches SOS. Oder ein Leuchtfeuer, das in die Irre führt, in den Untergang und Strudel des Nichts.
In dem vorn offenen Bühnen-Würfel (Karl-Ernst Herrmann), von dem wir vermuten, dass alle seine Zahlenfelder zusammen Null ergeben würden, schlurfen sie herein, humpeln und holpern: der Mann und die Frau, der Hausmarschall und seine Semiramis, der Prophet und die Jüngerin – auch als Travestie des Hohen Paars. Die ewige Eva und ihr alter Adam sind symbiotisch verbunden, in Bewunderung und Bemutterung voneinander abhängig und in ihrem Ineinander- und Aneinander-Aufgehen fast so etwas wie Satyrspieler der Gefühls-wenn sie sich umhalsen, kehrt für einen Moment Jugend in die brüchigen Körper zurück, die doch eigentlich ein einziger sind wie bei einem kuriosen Fabeltier. Absolutisten Tristan und Isolde. Aus einem Radio singt eine etwas wehleidige Männerstimme eine Canzone von der Liebe mit frechem Refrain.
Luc Bondy setzt zwei junge Uralte zwischen Ionescos »Stühle«, die er schon einmal, 1977 in Nürnberg, auf die Bühne gerückt hat – und nun mit großem zeitlichen Abstand für das Théâtre Vidy in Lausanne ein zweites Mal als hinreißend komische, virtuose Charade. Slapstick im Tartarus.
Der Mann (Micha Lescot) trägt ein Baguette als Insignie französischer Lebensart. Aber Paris, die Stadt der Lichter, ist erloschen in diesem Endspiel, so wie die Geschichte entkräftet. Wer spricht von Siegen. Überstehn ist auch nicht alles. In zu großen Hosen und zu langer Jacke, quer gesetzt die Füße, verkrallt die Hände, Flusen als Haar, zahnloses Sprechen: So wurde er von Eva Dessecker (Kostüme) zum Phantom des Greisentums ausstaffiert.
Die beiden, aus denen die Einsamkeit des Alters lacht, spielen immer dieselbe Geschichte. Wie lange schon? 75 Jahre vielleicht. Aber was tut’s! Ist es doch mythische Zeit, die sich nach Belieben dehnt oder verkürzt.
Das gichtige Bürger-Wrack, der an einer Banane nuckelt wie Becketts Krapp, und seine arthritische Partnerin in Grau-Rosa mit Knieverband (Dominique Reymond) sind – wie Fellinis »Ginger und Fred« – zwei vitale Schatten ihrer selbst. Sie drehen sich im Kreis, stapfen in die schwarz stehenden Pfützen auf der Bühne und staksen umher; sein Gekrächz beantwortet ihr Gegacker; wenn sie sich umhalsen, kehrt für einen Moment Jugend in die brüchigen Körper zurück, die doch eigentlich ein einziger sind wie bei einem kuriosen Fabeltier.
Von der Decke hängen zwei Galgenstricke herab, in deren Schlaufen sie manchmal ihre Hälse stecken und lallen. Etwas Besseres als den Tod werden sie eh nicht mehr finden. Schon gar keine Berühmtheit, auf die er erpicht ist, der seine Lebensklagen, all das Demütigende, die Verkennungen und Hintanstellungen absondert, und die noch mehr sie sich ersehnt für ihn, den sie sich als heroische Chef-Größe wünscht. Semiramis ist ihm Muse, Mama und Amme, nach der er greint wie ein Baby. Dann legt sie sich das plärrende Windelkind, den übertünchten Fötus, übers Knie.
Für seine Mittelung an die Völker und Nationen haben sie Gäste zu sich geladen, für die sie Stühle herbeischleppen, bis die Bühne reihenweise voll steht. Die Repräsentanten bleiben imaginäre Besucher, die sie herein komplimentieren, mit denen sie plaudern und scherzen, deren Visitenkarten sie wie in einem Taschenspielertrick hervorzaubern: die Dame, die Schöne, der Oberst, ein Fotograf usw., Ausgeburten der Fantasie, Erinnerungsreste. Semiramis beginnt mit Teenager-Koketterie zu schäkern, löst ihr Haar, turnt sich in eine obszöne Jugendlichkeit, wird – auch eine französische Genre-Spezialität – ganz zur unwürdigen Greisin. Und tanzt den Gesellschaftstanz einer übergeschnappten Ballerina.
So harrt man in Erwartung des »Redners«, der des Alten weltwichtige Worte verkünden soll. Dann ein Donnerschlag. Ein roter Vorhang wird sichtbar, ein breiter Sessel steht auf einer Empore, Symbol und Ersatz für seine Majestät, dem Adressaten der Epoche machenden Ansprache zur Heilung der kranken Mensch-heit. Schließlich erscheint als Redner ein schmalzlockiger Edel-Rocker (Roch Leibovici) mit Mikrofonständer, brabbelt ungereimtes Zeug und weiß nichts zu stammeln als Knock Knock Knocking on Heaven’s Door. So fühlen sich heute also die verlorenen Paradiese und der leere Himmel an.
Doch mit diesem Befund des Vergeblichen, der Vanitas, des großen Nein darf der Abend in seiner Drôlerie nicht enden. Der abgründige Witz – hochmusikalisch strukturiert und brillant getimet bis in die schwatzhaften Pirouetten des Sinnlosen und die Wande-rungen des Paars die Zuschauertribüne empor, die der »homo ludens« Luc Bondy mit seinen denkenden Darsteller-Spielzeugen zelebriert wie die Feierlichkeiten zum 14. Juli – verlangt ein anderes Ende der »tragischen Farce«. Ein Theater-Finale.
Der Sucher des Scheinwerfers irrt über die Bühne, streift das Podium, die Stühle, streichelt den Vorhang und heftet sich schließlich an die beiden am Boden lie-genden Alten – in ihrem ewigen Schlaf der Unvernunft.
Aufführungen: 31. August sowie 1., 2. und 3. September 2011; in französischer Sprache mit deutscher Übertitelung; 100 Minuten; Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg.