»Sitzgruppe« ist auch so ein Wort, das typisch deutsch klingt: nach Schrankwand und gefliestem Couchtisch, nach vergessenen Salzstangen in der Polsterritze, nach Gruppenzwang zur Gemütlichkeit. Kurz: Es klingt nach den 50er Jahren, als die neu errichteten Wohnungen anständig möbliert werden sollten. 1961 musste James Cagney in Billy Wilders Komödie »1, 2, 3« seine salutierenden Mitarbeiter noch mit einem gebrüllten »Sitzenmachen!« zur Rückkehr auf ihre Bürostühle zwingen. Sitzkultur sieht anders aus.
Dabei können Möbel mehr sein als das, was der Durchschnittsdeutsche im Rücken spürt, wenn er durchs Fernsehprogramm zappt. Dass Möbel auch eine Philosophie und ein Bekenntnis zur klassischen Moderne repräsentieren können, das erkannten Leo Lübke und S. D. Adolf Fürst zu Bentheim-Tecklenburg früh, als sie 1954 im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück die »Fabrik zur Herstellung von Polstermöbeln« gründeten. Um sich von den Unternehmen Lübke KG und »interlübke« zu unterscheiden, suchten sie einen neutralen Namen und wurden auf dem Familienwappen des Fürsten, das drei Herzen ziert, fündig. Fortan gab es Polstermöbel der Firma »COR«, was im Lateinischen »Herz« bedeutet.
Die drei Herzen gehörten anfangs auch zum Firmenlogo, wurden aber später von den klassischen drei Versal-Buchstaben abgelöst. Dass es in den letzten 53 Jahren den Möbelmachern dennoch nicht an Herz und Verstand gemangelt hat, wird in ihren, vom Geist des Bauhaus inspirierten, Produkten sichtbar. Dem COR-Katalog ist folgende Maxime vorangestellt: »In dieser schnelllebigen Zeit muss es Dinge geben, an die man sich halten kann. Diese Dinge stellen wir her.« Also Möbel als Religionsersatz, als Trostobjekt? Nein, das wäre denn doch zu hoch gegriffen. Eher als Lebensbegleiter, als Zufluchtsort vor der äußeren Welt. Es könnte dieses Gefühl der Kindheit sein: Unter der Bettdecke ist man sicher vor allen Widrigkeiten des Lebens. Schon in den 80er Jahren wurde dieses Phänomen von der amerikanischen Trendforscherin Faith Popcorn als »Cocooning« bezeichnet. Der Rückzug ins Private wird heute durch die Möglichkeit des »Home-Office« noch bestärkt. Einen Trend, den man mit Blick nach Ostwestfalen auch »CORcooning« nennen könnte. Eleganter und zeitloser war Weltflucht selten.
Schon 1956 war COR erstmals auf der Internationalen Kölner Möbelmesse vertreten, das Unternehmen wuchs stetig und landete 1964 den ersten großen Erfolg. Der westfälische Designer F.-W. Möller entwarf mit »Conseta« eines der ersten Elementmöbelprogramme. Hier wurde von Anfang an der Aspekt des Wachsens und Erweiterns mitgedacht. Heute ist »Conseta« eine »Einzigartigkeit mit vielen Gesichtern«, wie COR lyrisch textet. Im Katalog nimmt das Möbelsystem denn auch den meisten Raum ein – Veränderung als Konzept. »Conseta« kommt ebenfalls aus dem Lateinischen und bedeutet »zusammensitzen«, ist also eine sprachliche wie gestalterische Reduktion auf das Wesentliche. F.-W. Möller beschrieb es 1994 so: »Conseta ist mehr als ein Entwurf. Es ist eine Uridee zum Sitzen auf Sofas, an der 30 Jahre immer weiter gedacht, entfernt, genähert wurde.« Man merkt, hier hat sich jemand an seiner Vision abgearbeitet und »Conseta« mit seiner präzisen Schlichtheit wohl mehr Zukunft eingehaucht als die Panton’schen Wohnlandschaften sie besitzen.
Obwohl: Der Wille zur Avantgarde war in der ostwestfälischen Provinz von Rheda-Wiedenbrück schon immer gegeben. In den 70er Jahren war es der Sessel »Corbis« des Meisters der Eckenlosigkeit, Luigi Colani, der in zeitgeistigen Orangetönen zum Sitz-Fläzen einlud, und der neben dem klassischen »Conseta« zu einer der Erfolgsmodelle von COR avancierte. Peter Maly, einen der führenden Möbel- und Ausstellungsdesigner, inspirierte ein winziger Puppenstuhl seiner Tochter zum Entwurf von »Zyklus«, dessen Silhouette aus Kreisformen aufgebaut ist. »Zyklus«, eher Objekt als Sessel, zitiert heute dermaßen die Formensprache der 80er Jahre, dass man froh sein kann, dass es keine pastellfarbene Bezüge in Türkis oder Rosa gibt. Maly entwarf für COR auch die »Circo«-Familie, ein Stuhl- , Sessel und Tischprogramm, das sich dank der vielen Gestaltungsmöglichkeiten an jede Wohnsituation anpasst. Die weiße Variante mit verchromten Fuß erinnert an einen anderen Zeitgeist-Fetisch, den »iPod«, und ist zum Benutzen fast zu schade. Würde man auf ihm einen Rotwein und eine Portion Spaghetti genießen wollen, wäre man dauernd in Hab-Acht-Stellung, um dem guten Stück ja keine Flecken zuzufügen. Wobei das ein gutes COR-Möbel eigentlich aushalten müsste, da auf das Material und die Oberflächenbeschaffenheit großen Wert gelegt wird.
Auskunft gibt in diesem Fall die Broschüre »Leder«, die die komplexe Verarbeitung des Leders bis zum fertigen Sessel veranschaulicht, beginnend mit dem Rohzustand des Möbelbezugs auf einer Weide in Schwaben. »Suleika« heißt die Simmentaler Kuh, der ein »Hausbesuch« abgestattet wird, und die auf den Fotos dermaßen kritisch dreinschaut, als wüsste sie schon, dass sie eines Tages als Sessel in einem Loft endet. Beim Blättern erkennt man die Leidenschaft und Detailfreude, die COR schon während der Herstellung in seine Produkte legt. Eine Haltung, die sich auch in der Selbstdarstellung der Firma und der Darstellung ihrer Produkte niederschlägt. COR-Geschäftsführer Leo Lübke, der selbst Produktdesigner ist, betont dann auch nachdrücklich: »Für einen Möbelhersteller ist das Erscheinungsbild wichtiger als die Möbel selbst.« Klingt so, als solle der Katalog hübsch zur Einrichtung passen, was er mit seiner perlmuttartigen Oberfläche und dem in Leinen gefassten Rücken auch tut. Man inszeniert sich bis ins kleinste Detail als Avantgarde.
Den Blick nach vorn wagt COR auch mit der Neuheit »Lava«, einem »SitzLiegeLounge-Möbel«, das vom jungen Designer-Duo »Design Studio Vertijet« konzipiert wurde. »Lava« zitiert die popfarbenen Liegelandschaften der 60er Jahre, und hebt mit fließenden Übergängen den Abstand zwischen Sitzfläche und Boden auf. An die skulpturalen Formen schließen sich in sanftem Schwung Liegematten an, die den amorphen Trumm gen Boden erweitern. Von hier aus könnte man sich direkt weiter auf einen der hochwertigen Teppiche fallen lassen, die COR unter dem Begriff »carpet« anbietet.
Es ist eine Erfolgsgeschichte, die COR durch die Jahre entwickelt hat. Die Möbel und das Erscheinungsbild wurden immer wieder von Designpreisen ausgezeichnet, außerdem finden die Sitzgelegenheiten nicht nur nationale, sondern auch internationale Beachtung. COR stattet mittlerweile Unternehmen und Institutionen wie z.B. das Kreuzfahrtschiff Aida, die Allianz Arena München, Japan Airlines Tokyo und die deutschen Botschaften aus. Es ist eine lange Referenzliste, die zeigt, wie weit die ostwestfälischen Möbel mittlerweile in der Welt herumgekommen sind. Trotz dieses internationalen Glanzes sind es die Spuren eines Lebens, die, nicht nur COR-Möbel, zum autobiografischen Zeitzeugen machen. Die abgeliebte Patina, die Falten, Ausbleichungen und Dellen eines Ledersofas sagen viel über den »Besitzer« aus. Man erkennt den Lichteinfall des Fensters, vor dem es lange stand, oder die abgescheuerte Lieblingsstelle, auf der man jahrelang saß. Das Sofa wird zum Erinnerungsort – zwar in die Jahre gekommen, aber immer noch schön. Vergänglichkeit kann eben auch Maßstäbe setzen.