Wenn es wahr ist, dass der Mensch nach Größe strebt, dann sollte er sich jetzt unbedingt hinsetzen. Denn gerade erreichte uns eine erhebende Nachricht aus der anthropologischen Forschung. Wo man zwar weiß, dass der moderne homo erectus ständig an Körperlänge zunimmt. Die Gründe aber rätselhaft blieben. Trotz meterweise verfertigter Th eorien über die Wachstumsfaktoren: bessere Ernährung, bessere Medizin, mehr Licht.
Jetzt ist es raus: Es liegt an jenen vermeintlich harmlosen, unbeachteten Geschöpfen, die man gemeinhin Stühle nennt. Der Beweis: die Japaner. Zehn Zentimeter zugelegt in den letzten 70 Jahren. Und warum? Weil sie nicht mehr, wie noch vor Jahrhunderten, »in ihren heusern auf matten ruhen / kniehend / mit ahrtig kreutzweis gefl ochtenen füssen unterm leibe«. Sondern längst auf Stühlen thronen.Über Generationen hinweg wurden dadurch die Beine länger, sagen die Wissenschaftler.
Das muss uns in Nordrhein-Westfalen nachdenklich machen. Beherbergen wir doch mit rund 9000 Japanern in der Landeshauptstadt Dyusseru, pardon, Düsseldorf das größte »Klein-Tokio« Deutschlands, gern auch »die größte japanische Kolonie Europas« genannt. Sollte das grandiose Phänomen des japanischen Stuhlbeins, die körperverlängernde Ablagerung des Steißes auf Sitzgeräten, da nicht unser Denken verändern? Ja, sogar aufsässig werden lassen? Müsste man nicht beispielsweise in der Evolutionstheorie die Th ese von Lamarck wieder sesshaft machen? Der Zoologe mit dem gereckten Gi raff enhals im Argumentationsgepäck lehrte bekanntlich: »Der Gebrauch der Organe ändert die Morphologie.« Man schreibe ihn nur leicht um: Der Gebrauch von Möbeln ändert die Morphologie. Wissen wir denn, ob jene Bakterien, aus denen die Giraff e entstanden sein soll (Darwin), sich nicht eines schönen Tages auf Plasmabeinchen-dehnenden Heliobakter- Stubenhockern niederließen? Oder die bloß hundshohen Urpferde irgendwann anfi ngen, sich auf Sattelsitzgruppen herumzulümmeln? Man wird geradezu mit dem Nasenschienbein darauf gestoßen: von diesen Möbel-gemorphten Kreaturen ergeht ein direkter Aufruf, ja Aufschrei zur Verantwortung an das Design-Land NRW. Wo die Evolution ja nicht nur die Japaner hinverfügt hat, sondern auch die Sitzriesen des innovativen Wohndesigns.
NRW mit seinen Lehr-Stühlen allüberall im Fachbereich Design, in Aachen, Dortmund, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster, Niederrhein. NRW mit der Internationalen Möbelmesse IMM-Cologne. Nicht zu vergessen das renommierte Design Zentrum Nordrhein Westfalen in der Zeche Zollverein mit seinem »Red Dot Design Museum«, nach Selbstauskunft die weltweit größte Ausstellung zukunft sweisenden Produktdesigns, wobei Führungen durch den Bereich Wohn-Lifestyle selbstverständlich »Sitzproben«, oha, einschließen (www.red-dot.de).
Wenn nun also der Gebrauch von Möbeln die Morphologie verändert: Müsste da der kreative Nordrhein-Westfale nicht zum Vorsitzenden einer ganz neuartigen Designermöbel- Kultur werden? Zum homo chairman einer revolutionär evolutionären Wohndesign-Zukunft ? Eingedenk der körperdehnenden Konsequenzen der Steißbein-Ablagerung auf Lifestyleprodukten werden wir jedenfalls künft ig die Bedeutung des Möbeldesigns nicht mehr unterschätzen. Werden das altrömische Sprichwort »Liegen haben kurze Beine« warnender verstehen: Liegen machen kurze Beine. Die Möbelfauna unserer Arbeits- und Wohnbiotope wird sich verändern.
Wir erwarten das Aussterben niedrigwüchsiger Gattungen wie der Sessel-Saurier, der tückisch kniemöbelverwandten Beichtstühle und der hinterhältigen Strandliegen. Von NRW wird eine Massenvermehrung edler höhenverstellbarer Arten ausgehen, in alle Sitzlandschaft en der Welt. Es wird zur reihenweisen Ansiedlung von Barhockern im privaten Raum kommen. Und selbst die Hochsitze von Eifel bis Sauerland werden von Waldrändern in die Wohnzimmer einwandern. Auf ihnen werden wir fortan heranwachsen zu einem rehbeinigen Volk von Basketballspielern. Und endlich scheint auch das Rätsel gelöst, warum die Amerikaner nicht mehr die Längsten sind, wie noch vor hundert Jahren. Es muss an den Schränken liegen. An ihrem Lieblingsschrank.
Der wird immerzu größer, und mit ihren Kühlschränken wachsen die US-Bürger zwar auch. Aber in die Breite.