TEXT: ANDREAS WILINK
Anfangsstation: Bahnhof. Ort der Unruhe, des Aufbruchs und Durchgangs. Im Bochumer Schauspielhaus bleibt auf weitgehend leerer Bühnenfläche, über die Raimund Bauer nichts als eine Lichtbrücken-Installation hängt, diese Drehscheibe der konkrete und metaphorische Ort des Karl Siebrecht. Der 16-Jährige, Waise geworden, kommt aus der Uckermark ins Berlin der späten Gründerzeit, mit nichts als seinem Aussehen, guten Manieren, hellem Verstand und dem Willen nach oben. Als erstes trifft er das Arbeiterkind Rieke aus dem Wedding, etwa gleichalt und ebenso auf sich gestellt. Sie ist das Herz, wo Karl der Kopf ist, sie ist pragmatisch, wo er skrupulös ist in Fragen der Ehre und seines Ego. Karl, zunächst Dienstmann und Aushilfszeichner, wird Erfolg haben, als Fuhrunternehmer, der die Gepäckbeförderung der prosperierenden Hauptstadt auf die Räder stellt (zuerst von Pferdewagen, dann von Automobilen), nach dem Krieg und seinen Depressionen als Schieber.
Hans Falladas Romanfigur, die vor 37 Jahren in einer sehr ansehnlichen ZDF-Verfilmung von Mathieu Carrière ideal verkörpert wurde, ist ein Enthusiast der Zukunft, aber sein Ziel nicht das Glück, sondern das Gelingen. Karl Siebrecht bleibt ein unglücklicher Mensch. Ein Gescheiterter. Darin fast ein Peer Gynt, fast ein Faust, der seinen Teufelspakt mit dem Kapital eingeht und der nach Gretchen und Helena sucht, die bei ihm Rieke Busch, Ilse Gollmer und Hertha Eich heißen. Schließlich ist er ein Vorfahr von Fassbinders Maria Braun, der Mata Hari des Wirtschaftswunders, die nach dem Zweiten Weltkrieg, parallel zur Adenauer-Republik, keine Zeit für Gefühle hat. In der notwendig kräftig ausgeputzten Bochumer Fassung spürt man das mehr, als in der Fernsehserie und womöglich in der literarischen Vorlage selbst: härter, kälter, bitterer, unversöhnlicher.
Gegen Ende erklingt das Chanson »Illusionen« als Schicksalsmelodie für Karl Siebrecht (Felix Rech) und das Deutschland der Weimarer Republik, in deren Panorama sich – wie in Fosses / Kanders / Isherwoods »Cabaret« – die ersten braunen und roten Farben und Hakenkreuze mischen. Anselm Weber und die Dramaturgin Sabine Reich vermeiden in ihrer gelenkigen Fassung Milljöh. So inszeniert sich eine epische Revue mit eingezogener Kommentar-Ebene und eingelagerten Songs der Zwanziger, begleitet von Fiedel und Akkordeon, zwischen Döblin, Brecht, Brettl und Clärchens Ballhaus. Das ist alles andere als dumm. Sie streift das Satirische des Untertanentums und die Kritik am Fortschrittsglauben im Geist des Nationalen und entwirft – teils noch expressionistisch, teils schon neusachlich – Berlin als Sinfonie der Großstadt, indem Schwarzweiß-Filmbilder über die Szene projiziert werden. Die Zeit-Montage mit der Masse Mensch, mit Maschinen, Verkehrsströmen, Schlagzeilen und Schlagschatten spielt auf Tempo, Rhythmus, Bewegung als Energieträgern und Impulsgebern. Es hätte weniger moritatenhaft und etwas emotionaler sein dürfen, was nur Sarah Grunert als Rieke (wie damals im ZDF Ursela Monn) leistet und aufbringt. Auch wenn die Aufführung Ambition hat, sich mit und an Peter Zadeks berühmter Bochumer Fallada-Adaption von »Kleiner Mann, was nun?« zu messen, deren Charme, Vorwitz und Herz bringt sie nicht ganz auf.