»Man gab Bohème, das ist eine sehr schöne Oper, und die Musik klingt, als ob es süße Bonbons regnet.« Das gängige Puccini-Missverständnis – dem schon Erich Kästner aufsaß, als er diese Einschätzung in »Pünktchen und Anton« schrieb. Dem Publikum ist der süße Regen vielleicht lieber als der saure. Der Opernregie darf es nicht so ergehen. Denn die Bonbons sind mehr saure Drops und die Geschichte von Armut, Krankheit und Aussichtslosigkeit im Pariser Winter traurig. Aki Kaurismäki hat ihr in »Das Leben der Bohème« 1992, als es noch keine Prekariats-Debatte gab, wahrhafte Bilder verliehen. Im Stadttheater aber gibt man »Bohème« gern als Weihnachtsoper für die Familie. Ein anderes Rezeptionsschicksal hat »Tosca« erlitten. Ihrer politischen Implikationen beraubt, wird aus dem brutalen Krimi meist eine triefige Primadonnen-Nummer. Dass man mit den Mitteln der Dekonstruktion weiter kommt, hat etwa Dietrich Hilsdorf an der Rheinoper gezeigt, als er dort einen furiosen Psycho-Schocker inszenierte.
In Aachen und Krefeld geht man lieber auf Nummer sicher. Die Aachener »Bohème« spielt in nicht näher bestimmter sentimentaler Zeit. Mimi trägt erst Himbeerrot, dann bleiches Rosa, Rodolfo ein gepflegtes Cordsamtensemble, Musetta kupferrote Locken, die Künstlerkollegen mäßig Zerzaustes. Das Bühnenbild (Gabriele Jaenicke) mag sich zwischen Realismus und Abstraktion nicht recht entscheiden und verheizt die Regie-Idee der Vier Apokalyptischen Reiter allein im zweiten Bild. Doch hilft diese allegorische Klammer der Inszenierung von Eva Teilmans nicht auf, weil sie nicht weiter verfolgt wird. Stattdessen: kreuzbrave Personenführung und gelegentlich dichte Momente. Das finale Bild trägt sich ohnehin von selbst, so dass Puccini letztlich obsiegt. Auch musikalisch hört man Hausmannskost mit leicht überforderten Sängern. Das im Auftrieb befindliche Haus hätte sich mehr trauen dürfen, zumal das Publikum auffallend jünger (und offener?) ist als anderswo.
In Krefeld hat Rolf Gutjahr in roten Riesenlettern »Ecco un’ artista« auf die weißen Wände pinseln lassen und allerlei heutiges Atelier-Gerümpel abgestellt. Der Maler Cavaradossi (Kairschan Scholdybajew) ist neutral gekleidet, Tosca (Janet Bartolowa) aber stürmt in großer Seidenrobe herein. Wohlan, eine Sängerin wähnt sich halt immer auf der Bühne. Leider hat das Overdressing den Nebeneffekt, dass Janet Bartolowa vor lauter Schleppe-Drapieren, Schmuck-Nestelei und Frisur-Sorge glatt den Krimi verpasst und überhaupt recht tiefgekühlt wirkt. Wenn es Absicht der Regie (Katja Drewanz) war, Tosca als Kunstgeschöpf zu zeigen, ist dies zwar gelungen, allerdings zu Lasten des Dramas. Dem werden einige Lächerlichkeiten zugemutet: Galant reicht Baron Scarpia der Diva ein Baumarkt-Teppichmesser, auf dass sie das Gemälde ihres Liebsten verwüste, auf den der Schurke zuvor Eifersuchtsverdacht gelenkt hatte. Ein Kuschelbett steht später in den Gemächern des Sadisten, der doch so ausufernd seine Gewaltsex-Phantasien besingt, dass er gewiss kein artig Bettlein für eine Vergewaltigung brauchen kann. Nun ja, immerhin sind die musikalischen und sängerischen Leistungen allesamt ausgezeichnet, mit dem souverän geifernden, mit dramatischem Aplomb trumpfendem Mikael Babajanyan als Scarpia, gefolgt von dem höchst eindrucksvollen Liebespaar. Kenneth Duryea dirigiert sicher durch Puccinis Naturgewalten – die mehr anrichten können als schmelzenden Bonbon-Regen. REM