TEXT UND INTERVIEW: CHRISTOPH VRATZ
Michael Korstick glaubt, mit einem »Formgen« geboren zu sein. Selbst im Auto oder beim Kaffee schwirrt ihm Musik durch den Kopf. »Manchmal träume ich sogar Fingersätze. Das ist gespenstisch.« Korstick selbst kann einem auch unheimlich sein. Immer hat er sofort eine Antwort parat, als habe er sich schon hunderte Male dieselbe Frage gestellt, zu jedem technischen Problem bereits eine Lösung ausgetüftelt. Auf seiner Homepage sind die Klavierkonzerte aufgelistet, die er im Repertoire hat: 110 insgesamt, darunter selten zu hörende Werke wie die fünf Milhaud-Konzerte oder kaum spielbare Brocken wie die Burleske von Strauss und das Reger-Konzert. Wer Korstick kennt, weiß, dass er sie alle jederzeit abrufbar hat, im Kopf und in den Fingern. Beim Klavier-Festival Ruhr wagt er das Husarenstück, an einem Abend die beiden Klavierkonzerte von Brahms zu spielen. Schwerstarbeit.
K.WEST: Im Musikleben wird, wie in der Politik, gern der Begriff »Struktur« bemüht. Hilft das?
KORSTICK: Der Begriff ist sehr unglücklich, ein Schlagwort, eine Worthülse. Aber wir dürfen uns trotzdem nicht davon ins Boxhorn jagen lassen. Die Struktur als solche existiert ja. Ich nenne das immer gern das Gerüst der Musik. Sie gibt es nicht nur im analytischen Sinn, sondern auch als eine Art geistiges Gerüst.
K.WEST: Wie nützlich ist das bei der praktischen Arbeit?
KORSTICK: Wenn ich an eine Sonate herangehe, weiß ich, wie sie gebaut ist. Aber Sie müssen die Musik ganzheitlich wahrnehmen, einen siebten Sinn dafür entwickeln, was der Komponist und die Musik von Ihnen wollen. Wenn Sie das begreifen, haben Sie die Struktur längst verinnerlicht, und müssen sie nicht als äußerliches Gerüst herauskehren.
K.WEST: Wie sehr arbeiten Sie abseits des Klaviers an der Musik?
KORSTICK: Früher habe ich sehr viel Zeit am Instrument verbracht, allein um neues Repertoire zu lernen. In jüngeren Jahren ist das Üben auf eine bestimmte Art einseitig geprägt, indem man vor allem technische Probleme attackiert. Je älter man wird, desto weniger findet ein reiner Lernprozess statt, desto mehr verlagert sich das Ganze auf die Ebene der Verfeinerung.
K.WEST: Was ist Ihnen am Wichtigsten bei der Interpretation?
KORSTICK: Parameter Nr. 1 ist immer das Tempo. Tempo nimmt man als erstes wahr, Tempo ist der strukturbildende Faktor. Nr. 2 ist der Klang-Charakter, weil der im Zusammenhang mit der Textur der Musik stehen muss. Jede Partitur spricht optisch zu Ihnen und sagt, wie sie klanglich realisiert werden will. Das heißt: Man ist in diesem Stadium nicht ganz frei. Wenn Sie aber Tempo, Klang-Charakter und die Relationen aufgebaut haben, und dies in sich stimmt, gewinnen Sie in der Agogik die unglaublichsten Freiheiten. Irgendwann am Ende der Kette ist der Hörer gefordert, Unterschiede wahrzunehmen zwischen den relativ rigiden Eckpfeilern in der Musik und dem, was sich an Freiheit abspielt.
Korstick ist kein Spätzünder, wie manche meinen, eher ein Spät-Entdeckter. Mit über Vierzig ging der gebürtige Kölner, der heute südöstlich von Bonn lebt, erstmals in ein Aufnahmestudio. Er habe »das Medium Platte in seiner Bedeutung verkannt«, sagt er. Und: »Ich war Konzertpianist, habe für mein Publikum gespielt und mich darauf verlassen, dass die Kritiker entsprechend über diese Konzerte schreiben.« Vor allem mit seinen Beethoven-Interpretationen hat er für Furore gesorgt. Schon im Studium nannte man ihn an der New Yorker Juilliard School »Dr. Beethoven«. Ein kompletter CD-Zyklus der 32 Klaviersonaten steht kurz vor dem Abschluss und erntet überwiegend hymnische Reaktionen. Inzwischen liegen auch zwei Liszt-Einspielungen vor, die h-moll-Sonate sowie die ersten beiden Teile der »Wanderjahre« mit der monströsen Dante-Apotheose am Schluss des zweiten Bandes. Kühner, verwegener, im romantischen Sinne fantastischer ist dieses Stück vermutlich nie auf Platte dokumentiert worden.
K.WEST: Wann sind Sie zu Liszt gekommen?
KORSTICK: Liszt gehörte immer schon zu meinen Hausgöttern. Ich habe die »Années de Pèlerinage« bereits vor 20 Jahren für den Rundfunk komplett aufgenommen. Ich lege Wert auf einen sehr großen dynamischen Radius, vom wirklich leisesten Pianissimo bis zum lautesten Fortissimo. Auf diesem Gebiet ist aufnahmetechnisch heute mehr möglich, von daher war mir klar: Da muss ich irgendwann noch mal neu ran. Das ist nun geschehen.
K.WEST: Ist Liszt ein Programmmusiker?
KORSTICK: Liszt hat – das teilt er mit einigen Komponisten wie Debussy – nicht viel Programmmusik im engeren Sinn, beschreibende Musik, komponiert. Vielmehr haben äußere Einflüsse in ihm eine Saite zum Schwingen gebracht, die dann in Form eines neuen Werkes künstlerisch aus ihm heraus musste. Seine Musik ist oft durch einen Impuls, etwa einen literarischen, inspiriert, ist immer Ausdruck seines jeweiligen Seelenzustandes.
K.WEST: Was halten Sie vom Bild Liszts als dem des ewigen Virtuosen?
KORSTICK: Liszt hat den Nachteil einer ein Jahrhundert alten schlechten Presse, gegen die man ihn heute noch verteidigen muss. Dazu zählt das Image vom reinen Virtuosen. In Wahrheit kann man das Phänomen Liszt nicht mit einfachen Schlagworten fassen. Natürlich kann ich behaupten: Liszt war der unaufrichtigste, effekthascherischste und letztlich seichteste Komponist aller Zeiten. Das könnte ich an verschiedenen Stücken beweisen. Ich kann mir aber auch drei andere Beispiele aussuchen und sagen: Liszt war der visionärste, vergeistigteste, ehrlichste Komponist aller Zeiten. Das würde ebenso wenig zutreffen, in seiner Ausschließlichkeit. Die Wahrheit liegt auch nicht in der Mitte, sondern in einer komplexen Melange. Und genau das fasziniert mich. Die Spannweite, die Liszt in seinem Leben abschritt, ist viel größer als die Spannweite manch eines anderen Komponisten.
K.WEST: Ist Liszt insofern ein moderner Komponist?
KORSTICK: Ich halte Liszt für den Komponisten im 19. Jahrhundert, der für das 20. Jahrhundert der wichtigste war. Wichtiger als Wagner – wegen der Harmonik. Wagner war harmonisch kühn, völlig klar. Aber er hat keine harmonischen Neuerungen eingeführt, die nicht schon bei Liszt gewesen wären. Die Neuerungen Wagners haben sich auf einem anderen Gebiet abgespielt. Die von Liszt sind absolute Neuerungen.
Bereits 1997 legte Korstick eine Einspielung von Liszts einziger Klaviersonate vor. Zwölf Jahre später ließ er sie wiederveröffentlichen. Und meinte: »Warum neu einspielen? Meine Auffassung zu diesem Stück hat sich nicht geändert.« Prägnanz, imperiale Wucht, die Unerschütterlichkeit und Transparenz sind tatsächlich zeitlos. Korstick ragt aus der großen Zahl an Pianisten unserer Zeit heraus, nicht zuletzt, weil er sich, unbeirrt von den Gesetzen des Medienbetriebs, für die Musik einsetzt, die ihm wichtig ist, etwa bei Charles Koechlin.
K.WEST: Woher kommt Ihre Liebe zu Koechlin?
KORSTICK: Diese Musik bringt etwas in mir zum Schwingen. So naiv es klingen mag: Wenn ich sie spiele, fühle ich mich einfach wohl. Sie transportiert mich in eine andere Welt. Eine Welt, die von vielen anderen Komponisten nicht erschlossen wird. Eine hermetisch abgeschlossene Welt voller Ruhe und Farben.
K.WEST: Also eine Art Anti-Liszt?
KORSTICK: Koechlin, der von 1867 bis 1950 lebte, ist ein Komponist, der durch alle Raster durchfällt, weil man ihn nirgends in eine Schublade stecken kann. Er wird ja gern beschrieben als das fehlende Glied zwischen Debussy und Messiaen – eine sehr gute Beschreibung, die aber völlig falsch ist. Denn er war viel früher als Debussy und hat noch komponiert, als Messiaen längst schon seine Meisterwerke geschrieben hat.
Jahrhunderthalle Bochum, 7. Mai, 20 Uhr: Michael Korstick, WDR-Sinfonieorchester Köln unter Karl-Heinz Steffens. www.klavierfestival.de