So wirklichkeitsverbunden die Filme des mehrfachen Oscar-Gewinners Alejandro Gonzáles Iñárritu sind, so sehr heben sie sich doch ab von der Realität. Die Differenz ergibt einen Übersinn, einen Restposten, den (Männer-)Fantasie und Imaginationskraft besetzen und behaupten. Von »21 Gamm« und »Babel« bis »Biutiful« und »Birdman« und nun auch in seinem siebten Spielfilm, dem gut zweieinhalbstündigen, episch beatmeten »Bardo«, einer Netflix-Produktion, die für kurze Zeit exklusiv in wenigen ausgewählten Kinos läuft, bevor der Streaming-Dienst sie am 16. Dezember freistellt.
Iñárritu verfolgt eine Reise ins Ich: die des investigativen Journalisten und dokumentarischen Filmemachers Silverio Gama (Daniel Giménes Cacho), der durchaus autobiografische Züge des etwa gleichaltrigen, weltweit gefeierten Regisseurs trägt. Der in Los Angeles mit Frau Lucia (Griselda Siciliani) und Kindern lebende Silverio kehrt zurück nach Mexiko. Äußerlich betrachtet ist es die Wiederbegegnung mit der Heimat und ihrer uralten spirituellen Kultur, die bei ihm, dessen Wesen vom privilegierten US-amerikanischen spirit kolonisiert wurde, eine existentielle Lebens- und Schaffenskrise auslöst. Der Tod seines jüngst geborenen Kindes ist ein weiterer Schicksalsmoment, der den Konflikt mit sich selbst schärft. Silverio kommt ebenso zur Besinnung wie er durchdreht – eine taumelnde Doppelbewegung.
Diese Komödie der Irrungen, die bis ins bunte La-La-Land des Musicals und der Revue vordringt, setzt sich selbst ironische Lichter auf, ohne den dramatischen Kern zu beschädigen. Der unbegrenzte Zeitraum der Erinnerung öffnet sich, sie ist trügerisch und schafft sich aus Vergangenheit und Gegenwart, historischem Disput mit dem Konquistador Cortéz und gewalttätiger politischer Realität Mexikos ihre eigene Wahrheit, die eine träumerisch künstlerische ist: täuschend echt. In dem kleinen Grenzverkehr der sich gegenseitig durchdringenden Welten ist Silverio ein Partisan zwischen Ekstase und Melancholie, Überschwang und Absturz.
»Bardo« steht immer kurz vor dem visuellen Kollaps, ein Film als überbordender Bildersturm, surreal, pompös, barock in seiner die Lust und den Tod zusammenführenden Stilmanier und auch etwas selbstherrlich, so wie die Hauptfigur. Dramaturgisch wie stilistisch und psychologisch scheint sich Inárritu hier einem Gewährsmann anzuvertrauen: Federico Fellini, der in »La dolce vita« eine Zeitchronik verfasst und in »Achteinhalb«, kaum camoufliert, ‚seinen’ Film übers Filmemachen und die Selbstreflexion des Alter Ego Guido Anselmi gedreht hat.
Wenn man Inárritus Kurzfilme addierte, könnte die Summe ‚einhalb’ ergeben, dann wären wir also in der Zählung mit »Bardo« bei Siebeneinhalb.
»Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten«, Regie: Alejandro Gonzáles Iñárritu, 159 Min., Mexiko 2022, Start: 17. November, auf Netflix: ab 16. Dezember