TEXT: INGO JUKNAT
Er hat sein bekanntestes Fotomotiv angezogen. Es sind die knallroten Lederschuhe der Band Zoot Woman. Oder zumindest: ein sehr ähnliches Modell. Nicht, dass Gerrit Starczewski bunte Accessoires bräuchte, um aufzufallen. Zwei Meter groß und stämmig steht er in der »Melkweg«-Galerie wie ein Baum. Seinen enormen Haarschopf hat er zu einem Zopf gebunden, die Augen schauen hinter dicken Brillengläsern hervor. Für das Abtauchen in der Menge, für die heimlichen Schnappschüsse, ist er eigentlich nicht besonders geeignet. Umso erstaunlicher, wie ungestellt die Fotos wirken, die hier in barocken Goldrahmen an der Wand hängen. Da ist die füllige Sängerin und Lagerfeld-Muse Beth Ditto – backstage und ungeschminkt. Pete Doherty, ganz ungewohnt mit Banane statt Bier in der Hand. Leslie Feist mit Klebeband auf der Nase. Lana Del Rey im Schulmädchen-Look am See in Sachsen-Anhalt.
Die Motive sind Teil der Ausstellung »Everything is Rock’n’Roll«. Der Titel passt zur Umgebung. Oder umgekehrt. Neben dem »Paradiso« ist das Melkweg die bedeutendste Pop-Bühne in Amsterdam. Viele der Bands, die Gerrit Starczewski fotografiert hat, sind hier aufgetreten. In der Melkweg-Galerie hat er auch schon die »Dancing Shoes« ausgestellt. Sie waren der Durchbruch in seiner Karriere. Die Idee war simpel. Starczewski besorgte sich Foto-pässe für Konzerte berühmter Bands: Gossip, The Kills, Zoot Woman, The Libertines, Motörhead und viele andere.
Aber statt die Gesichter der Stars zu fotografieren, lichtete er nur ihre Schuhe ab. Gut möglich, dass die Inspiration von seinem Großvater stammt. »Mein Opa hat immer gesagt: ›Gerrit, das Wichtigste am Mann sind frisch gewichste Schuhe und Zuckerwasser in den Haaren – dann hast Du automatisch Erfolg bei den Frauen!‹« Inzwischen wird Starczewski von vielen Bands wiedererkannt. »Beth Ditto nennt mich nur ›Mr Dancing Shoes‹«, erzählt der Fotograf beim Rundgang durch seine Schau. Alison Mosshart von The Kills hat eines seiner Bilder im Wohnzimmer hängen. Im Goldrahmen – genau wie hier in Amsterdam.
NIMM BLENDE ACHT!
Starczewski ist Autodidakt. Die ersten Bilder hat er mit der alten Minolta X300 seines Vaters geschossen. Über die wenigen technischen Tipps, die er von anderen bekommen hat, muss er heute schmunzeln. »1/60 Sekunde, Blende 5,6 funktioniert immer« oder »Wenn die Sonne lacht, nimmt Blende 8!« Er fotografiert seit gut 20 Jahren. Die früheste Aufnahme in der Melkweg-Schau stammt aus dem Jahr 1992, da war er sechs. »Kinder der Bergstraße« heißt das Motiv. Starczewski hat es in Oberhausen geschossen, von der Fensterbank seiner Großeltern aus.
»Mein Opa war ein ziemlicher Stubenhocker und saß den halben Tag mit einem Kissen am Fenster, so typisch Ruhrgebiet. Eines Tages fuhr ein amerikanischer Straßenkreuzer vorbei, mit einem Hochzeitspaar drin. Die haben den Kindern Bonbons hingeworfen. Das ist die Situation auf dem Bild.« Es gibt noch weitere Fotos, die Gerrit Starczewski als Kind geknipst hat. Eines davon ist im Bochumer Fußballstadion entstanden. Es zeigt eine rundliche Frau mit Playboy-Bunny auf dem T-Shirt. »Ich mochte den Hasen, weil wir ihn auch auf dem Auto hatten. Erst später habe ich kapiert, dass das ein spezieller Bunny ist. Im Nachhinein gefällt mir, dass diese Frau, die so gar nicht nach Bunny aussieht, ein Playboy-T-Shirt trägt.«
DAS MÄDCHEN MIT DEM FUSSBALL
Das Stadion hat ihn immer wieder angezogen. Ein gutes Dutzend Fußball-Bilder hängt in der Galerie. Bezeichnenderweise zeigt nur ein einziges Foto die Situation auf dem Feld. Bei allen anderen geht der Blick ins Publikum: zur Fankurve in Bochum, zu kostümierten Elvis-Imitatoren, japanischen Fans bei der WM 2006, Flaschensammlern und anderen. Für eines der Fußball-Motive hat Starczewski den Bundesjugendfotopreis 2011 gewonnen. Es ist die Schwarzweiß-Aufnahme eines Mädchens, das einen Ball gegen eine Wand mit aufgemaltem Tor kickt.
Auch dazu hat er eine Geschichte. Eigentlich wollte er selbst auf dem Pausenhof Fußball spielen, um sich von Liebeskummer abzulenken. Aber da war schon dieses Mädchen. Starczewski sprach sie an: »Darf ich auch mal schießen?« – »Bist du dafür nicht zu alt?« – »Vielleicht, aber meine Freundin hat mich gerade verlassen, und ich bin traurig. Fußballspielen lenkt mich ab.« – »Hmmh. Ich bin auch traurig. Meine Eltern streiten sich dauernd. Ich halt’s zu Hause nicht aus.«
Für die meisten Bilder benutzt er eine altmodische Analogkamera. Nicht selten ein kleines Kompaktmodell, das in der Hosentasche verschwindet. So fällt er nicht sofort als Fotograf auf. Obwohl – oder: weil – er viel in Tourbussen und Backstage-Bereichen unterwegs ist, trinkt und raucht Gerrit Starczewski nicht. Auch aus professionellen Gründen: »Wenn du der einzig Nüchterne in einem Club bist, kannst du die Dinge ganz anders betrachten.«
Hat er nicht manchmal ein schlechtes Gewissen, im geschützen Bereich hinter der Bühne Fotos zu schießen – als einziger mit klarem Kopf? Starczewski überlegt lange. »Schlechtes Gewissen würde ich nicht sagen. Ich kann mich zwar trotz meiner Größe recht unauffällig bewegen, aber mir ist es sehr wichtig, nicht als Paparazzo wahrgenommen zu werden.« Im Zweifelsfalle verzichte er lieber auf ein Motiv als auf das Vertrauen der Menschen, die ihn in ihre Nähe lassen. Und so wirken seine Promi-Fotos denn auch: intim, aber nicht sensationsgeil.
FESTIVALBESUCHER NACKT
Er hätte gerne in den 60er Jahren gelebt, liest man über Gerrit Starczewski. Einem Teil seiner Bilder sieht man das an. Da sind die Ballons, immer wieder. Sie fallen von Decken, hängen in Bäumen und in Cranger Kirmesbuden. Es gibt ein schönes Regentanz-Motiv aus Berlin, Mädchen mit Kränzen im Haar – das ganze Blumenkinder-Programm, wenn man so will. Und dann ist da noch das »nakedHEART«-Projekt.
Seit zwei Jahren fotografiert Starczewski große Gruppen von Festivalgängern nackt. Manchmal bilden sie ein Herz. Auf der Homepage des Projektes heißt es dazu: »Ängste sollen abgebaut werden und ein intuitives, gemeinschaftliches Erleben von Kunst, Körper und Musik möglich gemacht werden.« Hand aufs Herz, ist er ein Hippie? Starczewski lacht: »Ich glaube, in mir steckt schon ein bisschen was von einem Weltverbesserer. Ich habe in meiner Jugend eher das Schlechte gesehen – heute möchte ich das Positive in den Vordergrund rücken.« Als Teenager sei er unzufrieden mit seinem Körper gewesen, erzählt der Fotograf. Das neue Projekt sei befreiend, für ihn und andere.
Es wäre leicht, sich über Starczewskis hippie-eske »nakedHEART«-Reihe lustig zu machen. Wenn es nicht die reinste Unterwanderung wäre, auf hippen Festivals wie dem »Melt!« mit einem völlig unironischen »Peace, Love and Happiness«-Projekt aufzukreuzen. Das denken offenbar einige. Inzwischen hat Starczewski ein ganzes Netzwerk von freiwilligen Nacktmodels aufgebaut, die ihm zu Fototerminen auf Festivals folgen. Zwei davon sind zur Vernissage nach Amsterdam gekommen. Alena und Jorid haben sich schon viermal nackt ablichten lassen. Inzwischen werben sie andere Kandidaten für »nakedHEART« an. Beim weiblichen Publikum scheint der Fotograf generell gut anzukommen. Kurz nach dem Interview dreht er eine erste Runde mit Publikum durch die Galerie: 18 junge Frauen, null Männer. Sollte Gerrit Starczewski früher mal Probleme im Umgang mit Mädchen gehabt haben, dann sind sie inzwischen vorbei.
Gerrit Starczewski: Everything is Rock’n’Roll, Melkweg-Galerie, Amsterdam, noch bis zum 7. April 2013, www.star-photo.de + www.melkweg.nl