Das Publikum schaut in einen Kinosaal – als säße es hinter der Leinwand. Es läuft der Film »Der fliegende Holländer«. Nach dem Abspann geht er wieder von vorne los. Und immer sitzt dieselbe Familie in der ersten Reihe: der Kaufmann Daland mit Frau und Tochter Senta. Sie ist die treibende Kraft, will den Film wieder und wieder sehen. Irgendwann vergnügt sich Dalands Gemahlin mit anderen Männern, Senta starrt weiter auf die Leinwand. Sie wird älter, vom Kind zum Teenager zur Frau. Und hat immer noch nicht genug vom »fliegenden Holländer«.
Das alles geschieht im Theater Duisburg während der Ouvertüre. Im Zeitraffer erzählt der Regisseur Vasily Barkhatov die Vorgeschichte. Ein großer Teil der weiteren Handlung spielt in einer Shopping Mall zwischen Pizzastand, Dönergrill und Coffeeshop. Sentas Verehrer Erik ist ein Sicherheitsmann. Er kämpft um sie, will zu ihr durchdringen, doch sie zieht ihre Traumwelt vor. Richard Wagners frühe romantische Oper ist schon oft als Fantasie Sentas erzählt worden. Aber selten so konsequent wie es Vasily Barkhatov tut.
Der Holländer, dieses Gespenst, das nur durch die Liebe einer Frau erlöst werden kann, tritt auf. Er sieht genauso aus wie im Film, mit schwerem Pelzmantel, wildem Haar und grauem Bart, der irgendwie angeklebt aussieht. Das ist auch der Clou der Aufführung. Nach Sentas Liebesschwur nimmt der Holländer Bart und Perücke ab, zieht den Mantel aus, darunter trägt er ein T-Shirt. Er hat sich verkleidet, alle haben mitgespielt, um Senta aus ihrer Fixierung auf eine Fantasiegestalt zu lösen, eine Art Schocktherapie. Doch das bringt nichts. Senta flieht zurück ins Kino. Sie will die Welt nicht, sie will ihren Traum vom fliegenden Holländer.
Großartiges Ensemble
Vasily Barkhatov ist ein russischer Regisseur Ende 30, der viel im Westen inszeniert und dort gerade die großen Häuser erobert. In Bregenz hat er gerade Umberto Giordanos selten gespielte Oper »Siberia« auf die Bühne gebracht und zeigt dabei Bilder aus einem russischen Gulag. Die Aufführung ist nächstes Jahr im koproduzierenden Theater Bonn zu sehen.
Barkhatov vermeidet in Interviews politische Statements, aber in seinen Regiearbeiten leuchtet er klar und mitfühlend in unsere Gegenwart hinein. Die Tendenz zur Weltflucht angesichts all der Krisen und Kriege hat er nun an der Deutschen Oper am Rhein perfekt eingefangen. Dabei kann er auf ein schauspielerisch wie gesanglich großartiges Ensemble bauen. James Rutherford ist ein Holländer voll dämonischer Wucht, Gabriela Scherer verbindet dramatische Kraft mit lyrischer Vielschichtigkeit, und Hans Peter König ist eine sichere Bank als Daland. Außergewöhnlich präsent gestaltet David Fischer den Steuermann, ein junger Tenor, der sich sehr vielversprechend entwickelt.
Patrick Lange dirigiert Wagners Partitur zupackend und straff, wobei den Duisburger Philharmonikern bei der Premiere einige Wackler und Unsauberkeiten unterlaufen. Tadellos agiert dagegen der von Patrick Francs Chestnut einstudierte Chor. Am Ende riesiger und verdienter Applaus für einen mitreißenden und zeitgemäßen Opernabend. Senta als Kinojunkie – das wird in Erinnerung bleiben.
30. Oktober und 13. November
Theater Duisburg