TEXT: GUIDO FISCHER
2014 feierte Heinz Holliger seinen 75. Geburtstag. Ein langer Weg, auf dem der gebürtige Schweizer in der Musik einen treuen, vielseitig aufgestellten Begleiter zur Seite hatte. Als Oboen-Virtuose schlug er vor einem halben Jahrhundert eine internationale Karriere ein und spielte von Barock bis zur zeitgenössischen Musik das gesamte Oboen-Repertoire. Als ebenfalls musikenzyklopädisch gebildeter Dirigent leitete Holliger zudem Spezialisten-Ensembles für Neue Musik, jedoch auch die Philharmoniker aus Berlin und Wien. Und dann gibt es vor allem noch den Komponisten Holliger, der für sein Schaffen nahezu sämtliche Weihen der Branche erhielt. Darunter finden sich neben Ehrendoktor-Würden ein Grammy sowie der Ernst von Siemens-Musikpreis.
Als einen »Musicien complet« hat der Landsmann und Komponistenkollege Klaus Huber ihn bezeichnet. Angesichts der beeindruckenden Künstlerbiografie versteht man umso mehr, weshalb es für Holliger wohl nur einen Zustand gibt: den musikalischen. »Mein Kopf funktioniert gar nicht ohne Musik.« Hier hat sich jemand mit Hirn und Herz dem Motto »Sempre la musica!« verschrieben.
Dafür verzichtet Holliger auf das, was anderen lebensnotwendig scheint. Er hat keinen Computer, kein Handy, kein Smartphone, kein Internet. Nur ein Faxgerät steht bei ihm zuhause. Er komponiert weiterhin mit Bleistift auf Papier. Holliger ist da altmodisch. Trotzdem bekommt er genau mit, was um ihn her passiert. Geht es etwa um die Situation des Musikbetriebs, kann der ansonsten gemütlich wirkende, angenehm plaudernde Zeitgenosse durchaus spitz werden. So wirft er Konzertveranstaltern wegen ihrer ideenlos zusammengestellten Programme »McDonaldisierung« vor. Und Holliger belässt es nicht bei verbalen Anklagen. Wo förderungswürdige Nachwuchsprojekte, Ensembles oder Noten-Editionen finanzielle Unterstützung gebrauchen können, zeigt er sich dank seiner hochdotierten Auszeichnungen spendabel: »Unsere Aufgabe, wenn wir solche Preise bekommen«, findet er.
Obwohl der 1939 im bernischen Langenthal geborene Musiker fordert, dass sich seine Kollegen mehr in die Politik einmischen sollten, hat er sich zumindest kompositorisch konsequent parolenhaften Statements verweigert. Während sein um 15 Jahre älterer Freund Klaus Huber oder der Italiener Luigi Nono sich mit ihren Stücken für die Geschundenen und Unterdrückten im Geist der Revolte einsetzten, nähert sich Holliger dem menschlichen Existenzkampf auf andere Weise. So beschäftigt er sich, speziell seit den 1970er Jahren, ausgiebig mit Seelenverwundeten, Aus-der-Welt-Gefallenen und Figuren am Rande des Scheiterns und Abgrunds. Der Komponist Robert Schumann und der Dichter Robert Walser, die beide in der Nervenheilanstalt endeten, bilden eine Konstante im Schaffen Holligers wie auch die von Sehnsüchten und Hoffnungslosigkeit durchsetzten Stücke und Dichtungen von Hölderlin, Trakl, Celan und Beckett.
Menschen, die es sich nicht leicht gemacht haben oder machen konnten. Wenngleich Schumann und Hölderlin schon für den Teenager Holliger zu favorisierten Sonderlingen wurden, hat er sich an ihnen doch noch nicht abgearbeitet. Für den 1975 begonnenen »Scardanelli-Zyklus« fragmentierte er das Spätwerk Hölderlins in textliche Bruchstücke und lotete sie in klanglich extremen Ausnahmezuständen aus. Nicht weniger beklemmend wuchtig und gespenstisch ist Holliger in seinen Kammermusikwerken vorgegangen, um das Konfliktpotential gerade in Schumanns Spätschaffen und dessen letzten Lebensjahren zu ergründen. Mit »Gesänge der Frühe« für Orchester, Chor und Tonband sollte er 1987 beide, Schumann und Hölderlin, mit einer Klangsprache voller mikrotonaler Irritationen und scharfkantiger Brüche zusammenführen.
Einerseits spiegelt Holligers Schaffen, das von Klavierstücken über ein Violinkonzert bis zur Oper die Gattungen umspannt, ein höchst konzentriertes, von seinen Lehrern Sándor Veress und Pierre Boulez geprägtes Klangdenken wider. Zugleich sieht sich Holliger nicht als Vertreter einer Neue Musik-Linie, die mit kühl kalkulierendem und konstruierendem Kopf ans Werk geht. Auf nur zehn Prozent bemisst er den Anteil des Denkerischen beim kompositorischen Prozess. Die übrigen 90 Prozent teilen sich für ihn Unterbewusstes und Gefühl. Das Wichtigste beim Komponieren sei, sagt er, »dass man Intellekt und Emotion nicht voneinander trennt«.
Auch ein Grund, weshalb Holligers Werke sich trotz ihres enormen Anspruchs erstaunlich gut im Konzertbetrieb behaupten. Zumal Holliger auch das Spektrum spieltechnischer Möglichkeiten erweitert und damit selbst ein Publikum fasziniert, das mit zeitgenössischer Musik kaum in Berührung kommt. Eines von Holligers Paradestücken, die kaum jemanden unberührt lassen, ist »Pneuma« von 1970 für Bläserensemble, bei dem die Musiker mit dem Atmen zu kämpfen haben und fast zu ersticken drohen.
Zwei nicht weniger aufwühlende Orchesterstücke bringt Holliger für sein Gastdirigat beim Mahler Chamber Orchestra mit, bei dem auch Debussys »La Mer« sowie Mahlers »Rückert-Lieder« zu hören sind. »Tonscherben« von 1985 ist eine auch mit asiatischen Tempelglocken und Zimbeln spielende Erinnerungsmusik für den israelischen Dichter David Rokeah.
»Ardeur noire« für großes Orchester und Chor hingegen gehört zu Holligers Kompositionen von Musik über Musik. Ihr zugrunde liegt ein erst 2001 entdecktes Klavierstück von Claude Debussy, das er 1916 einem Pariser Kohlenhändler geschenkt hatte. Auch mit dieser mehr als nur orchestrierten Nachschöpfung zeigt Holliger, wie man aus anspruchsvollen Konzertprogrammen musikalische Abenteuerreisen machen kann, die zurück in die Zukunft weisen.
Heinz Holliger, Mahler Chamber Orchestra, Anna Larsson (Alt) mit Werken von Holliger, Mahler, Debussy: 6. Februar 2015, Konzerthaus Dortmund; 7. Februar Philharmonie Essen, 8. Februar Philharmonie Köln.