TEXT: ULRICH DEUTER
Die Stimme des Erzählers huscht wie der forschende Blick über ein übervolles Gemälde. Springt von den hellen Partien zu den dunklen, verweilt beim Gesicht eines jungen Mannes, blank herausgemalt von Tiepolo in den gigantischen Fresken des Würzburger Schlosses; wechselt zur Skizze vom Kopf des nun älter Gewordenen, angefertigt von Jacques-Louis David, dem Maler der Revolution, der mit diesem Porträt aber auch Marat hätte abbilden können. Um wen geht es, um was? Erst einmal ist hier nur Tasten, Schauen, Bewegung. Die Stimme flüstert und raunt und geht dem Leser um die Ohren, sie beschwört, relativiert und hypostasiert, löst Fäden dort und fügt hier neue zusammen, fliegt zwischen Deutschland, Frankreich, Venedig, aber bleibt in der Zeit: im 18. Jahrhundert. Und lässt allmählich eine Figur entstehen, einen großen Maler: François-Élie Corentin.
1730 in Combleux sei er geboren, sein Großvater einer jener Kanalbauer der Loire, sein Vater ein Abbé und Dichter, seine Mutter eine Zerbrechliche wie aus Porzellan. Schüler Tiepolos; ein Großer soll er geworden sein, ein ungeheures Bild soll er gemalt haben im Jahre II des Revolutionskalenders, d.i. 1794, im Louvre sei es heute ausgestellt ganz am Ende des Pavillon de Flore, »Ursache« des Museums und »seine letzte Zielscheibe« – keine Historienmalerei sei es, »die Historie selbst«. All ihre Hoffnung, all ihr Schrecken. Es zeige alle Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses: »Die Elf« sei sein Name.
Die Erzählungen Pierre Michons sind Prosa von hoher poetischer Dichte, wohl lassen sie eine Welt entstehen, Figuren, Geschichten, doch verhehlen sie nie, dass sie Sprache sind, deren Schönheit und Kraft aus der Sehnsucht nach Sinnlichkeit stammt, der unerfüllbaren. Das Denkbare ist ihr Reich. Mit dieser Kraft lässt »Die Elf« helle Kinderszenen am Deich entstehen; winterliche Nachtszenen im Paris des großen Terrors. Und das Entstehen selbst: Corentin ein Substrat aus Reflexen der Kunstgeschichte, sein Opus maximum eine Möglichkeit, die hätte auftauchen können aus deren träumenden Motiven. Es ist eine Lustanstrengung, dieses Buch zu lesen.
Pierre Michon: »Die Elf«. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer; Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 119 Seiten, 17,95 Euro