TEXT: ULRICH DEUTER
Siri Hustvedts vielbeachtetes jüngstes Buch »Die zitternde Frau« ist ein Plädoyer für die Krankheit als Lebensform, für die Akzeptanz psychischer und mentaler Zwischenzustände, an denen die Begriffs-opponenten Wahn oder Wirklichkeit abprallen.
Ein ganz ähnliches Buch hat auch Alissa Walser geschrieben: »Am Anfang war die Nacht Musik«. Ganz ähnlich und ganz anders. Weil es kein entschlossenes Plädoyer, sondern ein stiller Roman ist. Der nicht forscht, sondern tastet, nicht reflektiert, sondern sich hinreißen lässt von Situationen, Empfindungen, Zuständen gelebter Ungenauigkeit. Ein ähnliches Buch aber doch, weil die Geschichte der blinden Pianistin Maria Theresia von Paradis, die Walser erzählt, die Geschichte einer Rettung ist: der Errettung aus der Gesundung zurück in die Krankheit, die Blindheit, die Sicherheit der Nacht.
In der Nacht, im Ahnen, Fühlen, Einssein bleiben, und doch im Tageslicht der Wissenschaft agieren, das wollte auch Franz Anton Mesmer, der Begründer des Magnetismus, der Vorläufer der Bio-Energetik. Er lebte von 1734 bis 1815, Maria Theresia von Paradis von 1759 bis 1824; beide begegneten einander in Wien.
Da spielt der Roman. Maria ist mit drei Jahren während eines »Tumultes« im elterlichen Haus erblindet. Blind lernt sie virtuos das Klavierspiel, tritt vor der Kaiserin auf. Kein Arzt aber kann ihren Augen die Sehkraft wiederbringen, eine blinde Klavieristin indes, fürchten die Eltern, wird nicht reüssieren. Hofrat von Paradis überantwortet daher seine Tochter dem Wundermann Mesmer. Und der heilt sie, schon nach einer Woche in Mesmers Spital treten Marias wild rollende Augäpfel zurück in die Höhlen, empfängt das junge Mädchen Licht: Mesmer hat die gestockten magnetischen Strömungen in ihrem Körper wieder zum Fließen gebracht. – Mesmer hat Maria ernst genommen, hat sie reden lassen, hat mit den Händen an ihr hinab gestrichen, hat ihr die monströse Perücke und die Zierkleidung abgenommen und sie so behutsam aus dem Käfig ihrer familiären Dressur herausgeführt. Würden wir heute sagen und Mesmer, so wie ihn Alissa Walser darstellt, als Psychoanalytiker und Psychotherapeuten avant la lettre ansehen.
Was aber ist Heilung, was Gesundheit? Maria wollte sehen können, weil sie die Wahrheit kennenlernen wollte. Nun erschrickt sie: »Sehen tut weh.« Nicht mehr alles anfassen zu dürfen, erlebt sie als Verarmung. Und vor allem: Sehend, ist sie des Klavierspiels nicht mehr mächtig: »Sie setze an, hatte sie Mesmer erklärt, und habe plötzlich nicht genügend Finger zur Verfügung.« Nach einem Streit zwischen ihrem Vater und dem Arzt erblindet sie erneut. Oder, das Buch lässt auch dies zu, zieht sich zurück hinter auf immer geschlossene Lider. Zurück in die Nacht.
Zurück vor die Aufklärung, könnte man sagen, die die Metapher des Lichts zum Programm erhob. Oder in eine andere Aufklärung, jedenfalls was Mesmer betrifft, der sich als Wissenschaftler fühlt, und doch das Einssein mit den Wirkkräften der Natur nicht aufgeben will. Für den Musik das Höchste ist – man fühlt sich ein wenig an Goethes Kampf gegen Newtons Farbenlehre erinnert. Für Mesmers Kollegenschaft jedenfalls ist der Rückfall der Jungfer Paradis ein Beweis für Mesmers Scharlatanerie, Mesmer flieht nach Paris, wo er Maria Theresia als gefeierte »blinde Pianistin« wiedertrifft.
»Am Anfang war die Nacht Musik« ist vielleicht eher eine Erzählung als ein Roman (so wie Walser seit 1994 kaum mehr als zwei Bände mit Erzählungen vorgelegt hat). Ein Puppenspiel mit liebevoll genau geschnitzten Figuren (Mesmers ehrgeizige Ehefrau; die gefühlsheitere Dienstmagd; die hysterische Dauerpatientin auf Mesmers Zauberberg). Geschrieben in einem Kammerton, der so klingt wie die Glasharfe, die Mesmer zur Seelenstärkung allmorgendlich spielt: hell, unweltlich, zauberisch, gelegentlich ein bisschen zu manieriert.
Alissa Walser: »Am Anfang war die Nacht Musik«. Roman. Piper Verlag, 2010, München/Zürich. 256 S., geb., 19,95 €