//__Am 5. Dezember 1709 gibt Domenico Prata in Bologna dem Gericht zu Protokoll, Lucia Cremonini, die Tochter seiner Nachbarin, habe ein Kind zur Welt gebracht, das kurz nach der Geburt gestorben sei. In der Kammer Lucias findet sich dann hinter dem Bett eine Tasche mit dem leblosen Neugeborenen, dessen Körper eine tiefe, vom Mund bis zum Hals reichende Schnittwunde aufweist. Adriano Prosperis »Die Gabe der Seele« beginnt wie ein mit den dramaturgischen Finessen des Kriminalromanciers aufbereitetes Stück Alltagsgeschichte. Anhand der Prozessakten zunächst als knappe Rekonstruktion der Kindstötung, auf deren Spur Prosperi, der als Professor für Religionsgeschichte vor allem durch seine Forschung zur Inquisition hervorgetreten ist, vor mehr als zwei Jahrzehnten stieß, als er Material über den christlichen Trost von zum Tode Verurteilten sammelte.
Als kurzes, abschließendes Kapitel »Reue und Vergebung« ist dieses ursprüngliche Projekt in »Die Gabe der Seele« eingegangen. Das Vorhaben dieses gut 500 Seiten starken Buches aber ist ein viel weiter ausgreifendes. Das Schicksal der Kindsmörderin Lucia ist lediglich der feine Rote Faden, der sich in dem dichten Gewebe aus sozial-, rechts-, religionsgeschichtlichen und philosophischen Diskursen verliert. So entsteht das panoramatische Bild einer Epoche, in der die Kindstötung von einer Sünde zur Straftat umdefiniert worden ist und sich der soziale Typus der Täterin ausbildet: die alleinstehende, arme junge Frau, deren einziges Kapital ihre durch die ungewollte Schwangerschaft bedrohte Ehre ist. Indem Prosperi das theologische, naturwissenschaftliche und juristische Fundament dieses Kriminalisierungsprozesses mit atemberaubender (bisweilen aber auch redundanter) Detailversessenheit rekonstruiert, gelingt es ihm, unsere heutige Diskussion über das, was Leben ist und wann es beginnt, an jenen historischen Punkt zurückzuführen, wo sie im Spannungsfeld der unterschiedlichen Disziplinen erstmals scharf Kontur annimmt.
Diese »Geschichte eines Kindsmordes« setzt sich aus einer Vielzahl kleiner Geschichten zusammen: aus der des Schwangerschaftsabbruchs etwa, die Prosperi bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nachzeichnet, bis die Theologen den Medizinern endgültig argumentativ die Hand führten. Denn den Ärzten oblag es, die »Kreatur« zu retten, indem sie den Fötus so rechtzeitig aus dem Leib der Mutter schnitten, dass er getauft und dadurch »beseelt« werden konnte. Zählte das jenseitige Heil des Kindes zu dieser Zeit doch mehr als das Leben der Mutter. Während Innozenz XI. 1679 andererseits mit moralischem Rigorismus grundsätzlich gegen jede Form auch der therapeutischen Abtreibung Stellung bezog, um so die Diskussion um den Abort mit einer »theologischen Sperre« zu versehen.
Fluchtpunkt der Auseinandersetzung um die Kindstötung ist zu dieser Zeit die Sorge um die Seele, die bekanntlich in den Zuständigkeitsbereich der Kirche fällt, wenngleich sich auch die Medizin intensivst um die Auffindung eines körperlichen Substrats derselben bemühte. Im zentralen Kapitel des Buches skizziert Prosperi, ausgehend vom antiken Erbe, die Begriffskarriere der Seele innerhalb des christlichen Denkens. Jedoch tut er dies immer mit Bezug zu seiner Leitfrage, welche Konsequenzen die definitorischen Verschiebungen auf diesem Feld für den Disput um den Beginn des irdischen Lebens hatten.
Das Kind, das Lucia Cremonini am 5. Dezember 1709 erstach, wurde während des Karnevals, vermutlich als Resultat einer Vergewaltigung durch einen jungen Priester, gezeugt. Fast ein Jahr später, am 22. Januar 1710, wird Lucia in einem öffentlichen Spektakel hingerichtet. Prosperi hat diesen dunklen Weg vom »Karneval der Festlichkeiten zum Karneval des Galgens« vor dem Hintergrund einer spärlichen Quellenlage ausgeleuchtet. Was er dabei entlang der Strecke thematisch alles eingesammelt hat, ist dem Leser reiche Entschädigung für so manche argumentative Abschweifung, bei der man gelegentlich schon mal das Ziel aus den Augen verlieren kann. Man kann den Suhrkamp Verlag nur beglückwünschen, dass er Adriano Prosperis Arbeit nun den deutschen Lesern erschließt. //
Adriano Prosperi, Die Geschichte der SeeleAus dem Italienischen von Joachim Schulte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 520 S. mit zahlreichen Abbildungen, 29,80€