Alles schwarz. Im Hintergrund ein Trauerzug, der den durch Suizid geendigten Korsakow begleitet. Vorn sitzt Genia Hofreiter, die dem Friedhofsbesuch fern blieb. Durch einen transparenten Schleier-Vorhang treten die Übrigen hervor, wie aus dem Schattenreich. Oder sollt’ es gerad umgekehrt sein, und sie, Gespenster des Wirklichen, treten ein ins Schattenreich des Lebens? Entree oder Exit. Was ist real, was Welt des Anscheins?
Für den Sigmund Freud-Zeitgenossen Schnitzler erregt die Sexualität – der erotische Reigen und die Pausen dazwischen – psychische Konflikte und moralische Erschütterungen. Sie ist Antrieb gegen den Tod und ist sein Beförderer. Wovon handelt »Das weite Land«, das Ehe- und Liebesdrama? Von »Herzen, in denen nichts verjährt«, und von solchen Organen, denen dieses Unbefristete fremd ist, vom tragischen Bewusstsein und vom Talent, zu vergessen, vom Unordentlichen des Lebens und davon, dass »das Natürliche das Chaos« sei, von Lüge und Misstrauen.
Eine unsichtbare Stimme erläutert – entomologisch sachlich und anschaulich – den Befall von erdbestatteten Menschen durch bestimmte Insektenlarven und Käfertiere. Arthur Schnitzlers Seelendrama verwandelt sich durch diesen Prolog (und zwei weitere Zwischenspiele über Fauna, Artenvielfalt und Balzverhalten) zur Leichenbeschau an – scheinbar – lebendigen Körpern. Wobei zu fragen bleibt, ob wir es bei den bürgerlichen Subjekten der Wiener Gesellschaft mit dem menschlichen Aas oder den Aas-Vertilgern zu tun haben. Für ein ‚entweder oder’ jedoch müssen wir uns nicht entscheiden.
Mausoleum der Liebe
In die Jahrhunderthalle Bochum, Monument stählernen Erfolgsstrebens, dessen Vergänglichkeit melancholisch stimmt wie ein prächtiger Grabtempel auf dem Wiener Zentralfriedhof, baut Barbara Frey ein Mausoleum der Liebe. Der Katafalk ihrer Aufführung lässt nicht Platz für Unwesentliches. Das (wenn auch vergiftet) Süße eines Plaudertons ist den Dialogen entzogen für eine knappe, schnelle, heruntertemperierte screwball tragedy, wie auch Farbe und Muster aus den Kleidern entfernt sind; bis auf drei schwere Ledersessel fehlen Interieurs und Dekor. Die Personen sind schlank und schmal gefasst. Elastisch für das Arrangement auf dem Spielfeld, dessen Regelwerk undurchschaubar ist, und für Verschiebungen in der Statik der Beziehungen, während musikalische Zäsuren nervös die Szenenabfolge takten.
Eine Atmosphäre der Beklemmung und des Befremdens herrscht. Größere Entfernung liegt zwischen den Menschen als nach Metern zählende Distanz. Extreme Vereinzelung, wenn Hofreiter, der Glühlampenfabrikant, der »sich von jedem nimmt, was ihm gerade zusagt«, über Genias schuldloses Schuldig-Sein an Korsakows Tod spricht, während Genia hinter dem Vorhang verschwindet wie Eurydike in die Unterwelt. Oder wenn er für eine kurze Gefühlsexplosion seiner jungen Geliebten Erna (Nina Siewert) gegenüber etwas einfordert, von dem er weiß, dass es das nicht gibt: Dauer, Versprechen, Gemeinsamkeit.
Kennen die Eheleute einander nun im Innersten oder überhaupt nicht?: Michael Maertens als sanfter Gewalttäter Hofreiter, der die Idee Jugend vernichten muss, Katharina Lorenz als Verstandes-Vestalin Genia. Sie bleiben, ob im Zusammenbruch wie sie, ob in Annahme des Schicksals wie er, in ihrer ungeheuren Einsamkeit. Und Unfreiheit, mögen sie sich auch frei fühlen.
Plötzlich eine Erscheinung: ein Wärme-Mensch inmitten der Kälte, ein – weiblicher – Körper, der sich seiner selbst bewusst mitteilt und verströmt. Bibiana Beglau als Frau Meinhold, deren Sohn Otto (von Felix Kammerer knäbisch weich gespielt) der Geliebte Genias wird und den Hofreiter im Duell töten wird, zeigt im Gespräch mit Genia eine Herzensklugheit, die Härte einschließt. Eine Komödiantin, was sonst!, die sich auskennt mit Masken und dem, was unter ihnen verborgen liegt. In einem sehr feinen Besetzungscoup spielt Beglau auch den lange von Frau Meinhold geschiedenen Herrn von Aigner: ein philosophischer Kopf, dem Schnitzler vorbehält, den Titel aufzulösen: »Die Seele ist ein weites Land«.
Gebrochene Helligkeit, darum geht es bei Schnitzler. Um Grautöne. Barbara Frey leuchtet sie aus: unerbittlich, peinvoll konzentriert. Der Vorhang öffnet sich zum Schlussbild, nachdem der Tod dem Spiel das Ende setzt: Martin Zehetgruber türmt das Dolomitenpanorama, geborstene Bodenplatten und ein riesiges Fräs-Rad, das sich in den Stein frisst. Zerstörungswerk Leben. Zu seinem Grundmotiv, schreibt Schnitzler in seiner Autobiografie »Jugend in Wien«, habe sich »das Ineinanderfließen von Ernst und Spiel, Leben und Komödie, Wahrheit und Lüge« entwickelt, das ihn, »über alle Kunst hinaus«, so sehr bewegt habe. In dieser Unwirklichkeit sind seine Dramenfiguren verfangen und verursachen ihr Scheitern, Verfehlen und Vermeiden. Das Unwirkliche, das das Beziehungslose ist, verhindert das Lebendige ihres Wesens.
Aufführungen: 22., 24., 25. und 26. August, Jahrhunderthalle Bochum