Text Andreas Wilink
Der Wahrheit letzter Schluss lautet: Niemand ist Teil eines ominösen »Wir«, sondern ein persönliches »Ich«. Und Ich und Du (bitte dann auch nicht das kollektive »Wir« eines Publikums) sollen jeden als Einzelnen betrachten. Principium individuationis – Vielheit oder Einheit. Keine Pauschalisierungen! Aber genau da liegt das Problem von Volker Löschs Theater. Für seine aktuelle Lektion gibt es stehende Ovationen in den Godesberger Kammerspielen. Lösch packt die Menge immer am neuralgischen Gefühlspunkt. Zwei Stunden, und die Welt ist vielleicht nicht gut und besser, aber geklärt und geordnet. Das wird beklatscht, pharisäerhaft: »Danke, dass ich nicht bin wie jener.«
Jener, das ist in diesem Schüler-Theater der gesinnungs-intensive Deutsch-Lehrer (penetrant aufgedreht: Glenn Goltz), der ein böser Deutsch-Fanatiker wird und seine zwölf Schülerinnen und Schüler mit echt postmigrantischem Hintergrund (ach, wo gibt es solche übersichtlichen Klassen!) am Ende abschiebt. Deutschland den Deutschen und auf dem Theater bitte Klassiker wie aus dem Reclamheft. Da lacht der Abonnent.
Zwischendurch geht ein explosiver Riss durchs Schulzimmer mit der munteren Rasselbande dunkelhäutiger, muslimischer Klassenfeinde, denn Volksaufklärer Lösch treibt stets einen Keil in Konflikt- und Krisenzonen und ummäntelt seinen Realo-Ansatz bevorzugt mit einem Klassiker, hier Lessings Drama »Nathan der Weise«. In der gelben Sprengungs-Nische sieht der »Nathan« mit Schauspielern aus dem Ensemble so schülertheaterhaft aus, dass man Absicht dahinter vermuten muss. Natürlich beginnt der Abend mit der Ringparabel.
Und immer auf Lautstärke. Das Lösch-Aufklärungs-Theater spricht in ein unsichtbares Megaphon, gemäß dem Motto ›Auf sie mit Gebrüll‹, als würde das Geschrei das Erregungs-Potenzial der Texte beglaubigen. Gleichwohl gilt: Für eine Stadtgesellschaft wie die in Bonn/Godesberg, wo angeblich die Angst umgeht, es eine hohe Salafisten-Quote gibt, neun Moscheen Allah anrufen und Arabisch zweitmeist gesprochene Sprache ist, kann für die Selbstorientierung wichtig sein, dass das Stadttheater auf das akute Thema Nr. Eins reagiert. Aber wie! Mit Kunst hat das nichts zu tun – es ist Sozialkunde, Nachhilfe in staatsbürgerlicher Absicht. Der Gegenwarts-Lärm der Parolen übertönt jeden Zwischenton. Die (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit dem zitierten »Kampf der Kulturen« und dem Folge-Repertoire verläuft nach Freund-Feind-Schema: Religion versus Ratio, Antisemitismus versus Israels Besatzungspolitik, Guantanamo-Imperialismus versus Terrorismus, Emanzipation versus Väter-Tradition, Dschihad versus NSU-Morde… Wechselseitige Vorurteile und Klischees über Deutsche und Muslime, deren sofortige Umkehrung und Widerlegung und neuerliche Gegenführung fügen jedoch dem Diskurs nichts wesentlich Anderes dem gegenüber hinzu, was dauernd in Talkshows, Leitartikeln, Analysen, Kommentaren, Reportagen verhandelt würde. Die sehr schlichte, ambivalente und komplexere Positionen unterschlagende oder auf Schlagworte reduzierende Lösch-Methode bedient und bestätigt, verharmlost und verfestigt scheinbar aufgelöste Stereotype. Und Lessing? Springt über die Klinge, wird radikal abgesäbelt und herunterschwadroniert.
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