Im frühen 20. Jahrhundert war das von Ursulinenschwestern betriebene Mädchenpensionat im belgischen Onze-Lieve-Vrouw-Waver nicht bloß eine Schule, in die begüterte Eltern aus aller Welt ihre Kinder schickten. Mit dem Wintergarten konnten die Nonnen überdies ein Spitzenwerk der Belle Époque vorweisen. Nach zweijähriger Restaurierung ist der Jugendstilsaal wieder für das Publikum zugänglich.
Der Jugendstil, dessen Blütezeit sich von den späten 1890er bis zu den frühen 1910er Jahren erstreckt, war eine internationale Bewegung. Doch in Belgien erfuhr die Kunstrichtung, die hier Art Nouveau genannt wird, besondere Verbreitung. Belgische Jugendstil-Vertreter wie Victor Horta, Paul Hankar oder Henry van de Velde erschlossen Architektur und Innenausstattung ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten. Hortas Jugendstilbauten in Brüssel gehören sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Ein Jugendstil-Juwel, das der Entdeckung noch harrt, findet sich in Onze-Lieve-Vrouw-Waver, einem Dorf in der Nähe von Mechelen. Dessen ehemaliges Ursulinenkloster beherbergt den »Wintertuin«. Mit seinem Tonnengewölbe aus Glas, das über und über floral verziert ist, und dem originalen Interieur aus dem Jahr 1900 präsentiert sich der Saal als Gesamtkunstwerk des Jugendstils. Anders als bei den Bauten von Horta oder Van de Velde ist leider nur unklar, wer den Wintergarten der Ursulinen entwarf. Dennoch besticht er auch ohne greifbare Künstlerpersönlichkeit.
Zeitweise gab es allerdings Pläne, den Jugendstil-Wintergarten zu beseitigen. Zum Glück wurden sie nicht verwirklicht. Seit 1987 steht das Glashaus unter Denkmalschutz. Träger des Gebäudes sind die Stichting Kempens Landschap und die Non-Profit-Organisation vzw Wintertuin Ursulinen. Sie veranlassten eine durchgreifende Restaurierung, die im November 2022 begann. Die Maßnahmen betrafen auch das Umfeld, etwa einen neuen Besucherparkplatz. Im Mittelpunkt jedoch stand die Wiederherstellung des Wintergartens. Hierfür wurden allein 15.000 historische Bodenfliesen ausgebaut, gereinigt und Stück für Stück wieder eingesetzt. Ein Kraftakt.
Vom Boden bis zur Decke atmet hier nun jedes Detail von Architektur und Ausstattung den luxuriösen Geist der Art Nouveau. Allegorien der Tageszeiten wechseln sich ab mit Ornamenten und schönlinigen Darstellungen aus der Pflanzen- und Tierwelt. Natürlich dürfen bei einem Wintergarten reale Pflanzen nicht fehlen – durch das Glasdach erhalten sie reichlich Licht.
Wie lässt sich das Ideal eines schlichten, materiell bescheidenen Klosterlebens vereinbaren mit einem solchen luxuriös anmutenden Ambiente? Ein Widerspruch, der sich auflöst, sobald man sich mit der Geschichte der Ursulinen in Onze-Lieve-Vrouw-Waver befasst. Die Ordensgemeinschaft, gegründet 1535 von Angela Merici in Brescia, widmet sich traditionell der Erziehung und Bildung von Mädchen. So lautete auch der Missionsauftrag, als die ersten acht Schwestern am 22. April 1841 vor Ort eintrafen.
Nicht nur in Belgien sprach sich bald herum, dass der Unterricht der Ursulinen von vorzüglicher Qualität war. Mehr und mehr Anmeldungen gingen bei dem Mädchenpensionat ein. Eine Erweiterung und Modernisierung des Ursulinen-Instituts erwiesen sich Ende des 19. Jahrhunderts als überfällig. Dabei wollten die Ursulinen nicht zuletzt eine wohlhabende internationale Klientel ansprechen. Um 1900 stammte ein Viertel der Schülerinnen aus dem Ausland – sie kamen aus Italien, Spanien, Rumänien und der Türkei, ja sogar aus Brasilien und Australien. Deren Eltern erwarteten Luxus und schätzten die dekorative Formensprache des Art Nouveau. So war der Jugendstil-Wintergarten gleichsam ein architektonischer Lockvogel. Ein Plan, der voll und ganz aufging. Kurios, dass die Klosterkirche in Onze-Lieve-Vrouw-Waver in neogotischen Formen erbaut wurde. Unterschiedliche Stilrichtungen vereinigen sich also auf dem einstigen Kloster-Areal zu einer Melange, wie sie typisch ist für das 19. und frühe 20. Jahrhundert.
Der Erste Weltkrieg bedeutete auch für das florierende Mädchenpensionat einen herben Einschnitt. Die Gebäude des Ursulinen-Instituts wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen, teils zerstört. Wie durch ein Wunder blieb der Wintergarten von größeren Schäden verschont. Nach 1918 gingen die Ursulinen zügig an den Wiederaufbau – dieser erfolgte noch größer und mit mehr Funktionalität. Dabei wurden der Wintergarten und die benachbarte »Piano-Galerie« leicht versetzt.
Den Zweiten Weltkrieg überstand das Institut weitgehend unbeschadet. Stieg die Zahl der Schülerinnen nach 1945 auf 950 Mädchen, so machten in den folgenden Jahrzehnten Änderungen im belgischen Bildungswesen sowie die stetig sinkende Zahl von Nonnen, die sich dem Ursulinenorden anschlossen, Umstrukturierungen unumgänglich. Heute betreibt das Sint-Ursula-Instituut hier eine Sekundarschule, die auf Studium und Arbeitsleben vorbereitet.
Um den Bestand des herausragenden Gebäude-Ensembles auch für die Zukunft zu gewährleisten, gründeten die Schwestern 1994 die gemeinnützige Organisation vzw Wintertuin. Sie bewahrt sowohl das materielle wie das immaterielle Erbe und ermöglicht dem kunst- und architekturbegeisterten Publikum aus der ganzen Welt den Zugang zu den historisch wertvollen Gebäuden. Die größte Attraktion ist aber nach wie vor der Wintergarten. Prächtig und nun auch frisch restauriert.
WINTERGARTEN DER URSULINEN, BOSSTRAAT 9A, B-2861 ONZE-LIEVE-VROUW-WAVER