TEXT: ANDREAS WILINK
Eine Lawine löst sich und rollt auf eine Terrasse in den Französischen Alpen zu, auf der Wintersport-Touristen die Sonne genießen. Darunter die schwedische Familie von Tomas, Ebba und zwei Kindern, die für eine Woche Ski-Ferien machen in einem luxuriösen Hotel. Wie reagiert jemand in einer Extremsituation? Besitzt er noch Kontrolle über sich? Tomas stürzt im Angesicht der Bedrohung vom Tisch und flüchtet, ohne sich um Frau und Kinder zu kümmern: Überlebensinstinkt, Fluchtimpuls, Angstreaktion? Im Film dauert es nur eine Schrecksekunde – danach scheint es so, als wäre nichts gewesen. Aber Ebba, die Kinder und auch Tomas sind wie schockgefroren. Er kann seine Haltung nicht wahren und bricht völlig zusammen, sein Selbstbild und die Vorstellung von der Rolle als Mann und Beschützer sind auf die Probe gestellt und vernichtet worden.
»Höhere Gewalt« verhandelt einen moralischen Grenzfall, wie Schwedens Kino ihn gern konstruiert und ausforscht, etwa »In einer besseren Welt« oder »Nach der Hochzeit« von Susanne Bier. Tomas’ Versagen sorgt für Verwirrung, Verstörung, Verachtung, auch für Versuche von Versöhnung. Tomas und Ebba (Johannes Bah Kuhnke, Lisa Loven Kongsli) können nur vor Zeugen miteinander reden, als seien die Bekannten eine Art Mediatoren-Instanz. Bei einem Glas Rotwein mit einem Paar im Restaurant wirft Ebba ihrem Mann vor, sie und die Kinder im Stich gelassen zu haben, als das weiße Nichts nahte. Freunde, Mats und Fanni, die zu Besuch kommen, hören auch noch einmal die ganze Geschichte. Mats spricht betreten von »Überlebensmodus«, der in solchen Momenten wirksam werde. Antonio Vivaldis »Winter« erklingt mehrmals nur scharf und kurz angespielt. Wie eine reißende Saite. Draußen donnern Explosionen von den Hängen der Berge, um der Ablösung von Lawinen vorzubeugen, Schneeräum-Fahrzeuge tun ihren Dienst, das Hotel liegt einerseits schutzlos da und wirkt doch wie ein Refugium: eine behagliche Höhle, während die Natur unberechenbar, weniger feindlich als gleichgültig ist. Das Ende gleicht die Bilanz aus, so dass nicht Tomas allein versagt haben wird. Aber mit dieser Art ausgleichender Gerechtigkeit und Relativierung der Verfehlung nimmt sich der Film selbst die Wucht der unerhörten Begebenheit.
»Höhere Gewalt«; Regie: Ruben Östlund; Darsteller: Johannes Bah Kuhnke, Lisa Loven Kongsli; Schweden 2014; 118 Min.; Start: 20. November 2014.