Ein nicht unwesentliches Wort wird im deutschen Titel unterschlagen: »Gracious« – eine gnädige Nacht. Stattdessen ist die Ortsmarke genannt: Helsinki. Eine kalte Nacht der gefrorenen, auftauenden und durchwärmten Gefühle ist es, obwohl schon der 1. Mai bevorsteht.
Drei Männer in einer Bar, die, wie zum Trotz, Corona-Bar heißt. Mika Kaurismäki sucht, in einem sanften Schwenk und in leiser Tonlage, Auswirkungen der Pandemie zu erfassen, während der »die Welt mürbe« geworden ist und der Mensch müde, sich auf Abstand zu halten, zu spüren, wie Sicherheiten schwinden, ihm die Dinge entgleiten, und es ihm schwer wurde, frei zu atmen.
Ein Arzt, Risto (Kari Heiskanen), der Covid-Patienten behandelt und darunter ein 14-jäjriges Mädchen an den Tod verliert, die ihm zum Abschied einen Brief geschrieben hat, und der erkennt, wie dünn seine Schutzschicht geworden ist, kehrt bei Heikki ein.
Der Barbesitzer (Pertti Sveholm) hat sein Lokal schließen müssen, fürchtet das baldige Aus und horcht hinein in »die Leere, die Stille und die Verzweiflung«. Ein Benzinkanister steht bereit, um seine Existenz im Feuer aufgehen zu lassen.
Ein weiterer Mann, Juhani (Timo Torikka), der mitteilt, im Sozialamt als Verwaltungsbeamter zu arbeiten, bittet um Aufenthalt, um sein Handy aufzuladen, weil, so behauptet er, seine Hausschlüssel verloren gegangen seien und seine Tochter gleich sein erstes Enkelkind entbinden würde. Aber es ist ganz anders. Er wird von der Polizei gesucht, weil er jemanden umgebracht haben soll, wie wir anfangs aus dem Radio erfahren haben.
Zuletzt taucht auch noch Ristos Frau Eeva (Anu Sinisalo) auf, und das Paar spielt, wie bei Bergman, die Szene einer Ehe.
Krisengespräche, Beichte und Bekenntnis, Schmerztherapie, Trauerreden, dazu zwei Flaschen sehr guten Rotweins. Dass sich die Bedeutung nicht aufdrängt, sondern das Gesagte beiläufig bleibt und gerade dadurch wesentlich wird, ist die Kunst der behutsam inszenierten 85 Minuten. Überforderung im medizinischen Beruf, die wirtschaftliche Misere durch den Lockdown, häusliche Gewalt und der psychische und physische Aufruhr, um ihrer Herr zu werden, Sprachlosigkeit in der Vereinzelung – das beschäftigt die drei Männer. Das kluge, wägende Zuhören, Fragen und Rat-Geben der jeweils Anderen ist konkret und wächst heraus ins Allgemeine, wenn es um Freiheit von etwas oder Freiheit zu etwas geht.
Für ein paar Stunden, während derer Heikki auch von seinem Lokal berichtet, das über zwei Generationen hinweg seine »Identität« geworden sei, oder, wie Juhani zu ihm sagt, sein »Schicksal«, bilden die Drei wahrhaftig eine Schicksalsgemeinschaft.
Als die Nacht vorüber ist, trennen sich ihre Wege. Gelöst wurde nichts, aber erlöst scheinen die Männer und Frau vielleicht doch zu sein – sie haben auf bescheidene Weise irdische Gnade erfahren. Am Ende lässt Juhani noch ein paar Seifenblasen in den Himmel steigen.
»Eine Nacht in Helsinki«, Regie: Mika Kaurismäki, Finnland 2021, 85 Min., Start: 20. Januar