INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
Zu den Versuchen, die durch die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 beförderte Diskussion über den kulturellen Wandel und das Selbstverständnis des Ruhrgebiets fortzuführen, zählt die 2012 erstmals veranstaltete »Kulturkonferenz Ruhr«. Thema der zweiten Ausgabe am 20. September 2013 ist die »Zukunft der Interkultur«. Birgit Mandel lehrt als Professorin für Kulturmanagement und Kulturvermittlung in Hildesheim am Institut für Kulturpolitik. Im Auftrag der Zukunftsakademie NRW hat sie sieben interkulturelle Modellprojekte von nordrhein-westfälischen Kultureinrichtungen wissenschaftlich begleitet. Auf der Konferenz wird sie Ansätze des »Interkulturellen Audience Development« vorstellen.
K.WEST: Soll interkulturelles Audience Development den Markt kultur-fähig machen oder die Kultur marktfähig?
MANDEL: Zentral ist die Frage, wie wir unser öffentlich finanziertes Kulturleben umgestalten können angesichts einer sich stark verändernden, sich diversifizierenden Gesellschaft. Naheliegend wäre tatsächlich die Marketingperspektive, also: Wie gelingt es Kultureinrichtungen, neues und anderes Publikum zu gewinnen, da die Stammklientel, das klassische Bildungsbürgertum, schwindet. Was dazu führen könnte, dass die hohen öffentlichen Ausgaben für Kultur, allen voran Theater und Opern, zukünftig schwerer zu legitimieren sind. Aber ein solcher Ansatz greift zu kurz. Viel wichtiger ist, die Veränderungen in der Gesellschaft zu nutzen, um Formate und Programme, ja: den Kulturbetrieb insgesamt zu verändern.
K.WEST: In welche Richtung müssten diese Veränderungen gehen?
MANDEL: Wir müssen uns von unserem starren Kulturkanon und zum Teil z.B. vom Repertoirebetrieb verabschieden. Man wird Theater und Opernhäuser künftig möglicherweise auf ganz andere Weise nutzen, vielleicht als interdisziplinäre Kulturzentren. Dort könnten partizipative Projekte mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickelt werden, statt das man traditionelle Format bedient.
K.WEST: Aber das Kulturangebot in Deutschland ist im weltweiten Vergleich dank der vergleichsweise guten finanziellen Förderung so vielfältig wie kaum ein anderes ist. Ist da nicht schon jetzt für jeden etwas dabei?
MANDEL: Dass wir einen großen kulturellen Reichtum und eine große Vielfalt haben, ist unbestritten. Doch die Förderung von Einrichtungen, die sich jenseits des Hochkulturbetriebs positionieren, macht nur einen geringen Teil des Gesamtbudgets für öffentliche Kultur aus. Und hinzu kommt, dass dieses Angebot nur etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung erreicht. Der kulturelle Sektor ist in den letzten 30 Jahren stark expandiert. Der Prozentsatz derer, die diese Angebote nutzen, hingegen nicht. Also: Wenige Menschen nutzen immer mehr kulturelle Angebote. Öffentliche Einrichtungen müssen darüber nachdenken, wie sie das ändern und die Nachfrage auf eine breitere Basis stellen können.
K.WEST: Nicht-Nutzer-Befragungen haben gezeigt, dass der Ruf hoch-kultureller Einrichtungen konservativer und elitärer ist als ihr Angebot. Das lässt vermuten, dass Kultur vor allem ein Problem hat: ihr Image.
MANDEL: Im Rahmen der Studie ist mir noch mal bewusst geworden, dass gerade jene Kultureinrichtungen, die man für besonders konservativ hält, sich in den letzten Jahren stark verändert und geöffnet haben. Das Image des elitären und langweiligen Hochkulturtempel entspricht nicht dem Angebot. Aber diese Images haben eine starke Kraft. Was übrigens nicht nur negativ ist. Viele Menschen gehen davon aus, dass in den Musiktheatern und Schauspielhäusern Wertvolles stattfindet. Obwohl sie selbst dort nicht hingehen, weil sie der Meinung sind, dass das, was dort stattfindet, mit ihrem Leben nichts zu tun hat – und das ist dann tatsächlich ein Marketingproblem.
K.WEST: Welche Rolle spielen ethnische Unterschiede beim interkulturellen Audience Development?
MANDEL: Eine der wichtigen Erkenntnisse unserer NRW-Studie war, dass die Grenzlinien zwischen sozialen Milieus und nicht zwischen ethnischer Zugehörigkeit verlaufen. Kein Mensch hat heute allein eine ethnisch geprägte Identität. Wir haben kulturelle Mehrfachidentitäten, in die verschiedenste kulturelle Muster einfließen. Bei der jüngeren Generation sind solche Fragen schon längst kein Thema mehr. Kunst und Kultur müssen soziale Grenzen überwinden.
K.WEST: Sie haben sich unterschiedliche interkulturelle Projekte im Ruhrgebiet angeschaut. Welche haben funktioniert?
MANDEL: Sehr beeindruckt hat mich das Projekt »Crashtest Nordstadt« des Schauspielhauses Dortmund. Das Theater ist für mehrere Monate mit einem großen Team in die Nordstadt gezogen, um dort mit Menschen sehr unterschiedlicher, häufig bildungsschwacher Milieus gemeinsam ein interaktives Spiel zu entwickeln. Der Clou war, dass die Menschen aus der Nordstadt das Spiel bestimmt haben und das bildungsbürgerliche Publikum dann rausgefahren ist, um mitzuspielen. Rollen und Machtverhältnisse wurden also umgekehrt, und das traditionelle Kulturpublikum wurde mit seinen Klischeevorstellungen und Ängsten konfrontiert. Die Teilnehmer aus der Nordstadt haben sehr euphorisch von diesem Bildungserlebnis berichtet. Sie haben es als sehr bereichernd empfunden.
K.WEST: Auffällig ist, dass die von Ihnen untersuchten Projekte alle stark partizipativ angelegt waren. Werden die öffentlich geförderten Kultureinrichtungen also mittelfristig zu Orten der Laienkultur umgebaut werden müssen?
MANDEL: Partizipation ist der erste Schritt, um auf Menschen zuzugehen, die sich für das Angebot nicht interessieren. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass wir unsere Kultureinrichtungen in Laienbühnen umwandeln sollten. Aber die Frage ist spannend, ob man an Profil und künstlerischer Qualität verliert, wenn man sich laienkulturellen Einflüssen stärker öffnet.
K.WEST: Und wie lautet Ihre Antwort?
MANDEL: Wir haben beteiligte Künstler und Dramaturgen interviewt, und die haben uns überwiegend gesagt, dass die Einflüsse und Impulse durch die Begegnung mit Laien dazu führen, dass man als Profi künstlerisch noch mal anders herausgefordert wird und dass das durchaus der Qualität zugute komme. Aber es geht wirklich nicht darum, die Häuser zu Laienbuden umzubauen, sondern um neue inhaltliche und ästhetische Impulse. Zurzeit stimmt das Verhältnis noch nicht, weil partizipative Projekte Ausnahmen sind, die aus Sondermitteln finanziert werden.
K.WEST: Sind solche Projekte denn für das nicht-beteiligte Publikum von Interesse, oder sitzen in den Vorstellungen dann nur Freude und Verwandte?
MANDEL: Meine Analyse zeigt, dass Präsentationen von interkulturellen Projekten in der Regel Publikumsrenner sind. Das heißt, dass sich nicht nur die Community der Beteiligten interessiert, sondern auch das bildungsbürgerliche Stammpublikum kommt. Wenn das Thema für die Stadt relevant ist, kann man mit solchen Projekten mehrere Bevölkerungsgruppen zusammenbringen.
K.WEST: Laufen diese Bemühungen auf eine Neubewertung des Verhältnisses von Hoch-, Pop-, Sub- und Was-auch-immer-für-Kultur hinaus, oder auf eine alternative Arbeit am klassischen Kanon?
MANDEL: Ein großer Schritt wäre, wenn die immer durchlässigere Grenze zwischen E- und U-Kultur endgültig fallen würde. Das ist die einzige Chance, wenn wir eine breitere Bevölkerungsbeteiligung am öffentlichen Kulturleben möchten. Denn diese sehr deutsche Trennung hat dazu geführt, dass ein Großteil der Bevölkerung das Gefühl hat, dass das öffentlich geförderte Kulturleben nicht relevant ist für das eigene Leben.
K.WEST: Würden sich die öffentlichen Kultureinrichtungen durch diese Hinwendung zur leichteren Konsumierbarkeit nicht in Konkurrenz zu privaten Anbietern begeben – und auf Dauer ein Legitimationsproblem bekommen?
MANDEL: Die stehen doch schon in dieser Konkurrenz. Stadttheater haben mittlerweile eigene Musical-Sparten. Der Legitimationsdruck ist groß. Selbstverständlich dürfen und müssen öffentlich geförderte Häuser populäre Formate aufgreifen; Events, in den Stadtraum gehen, Prominenz einbinden. Aber wir dürfen dabei nicht aus dem Blick verlieren, warum diese Häuser gefördert werden.
K.WEST: Es soll also aussehen wie ein Musical, aber mehr bieten. Was genau ist dieses Mehr, wenn die Ästhetik auf leichtere Konsumierbarkeit setzt?
MANDEL: Eine Aufgabe könnte darin bestehen, die unterschiedlichen Gruppen einer Stadtgesellschaft zusammenzubringen. Fragen aufzuwerfen und Anstöße zu geben, die das Publikum dazu anregen, den eigenen Alltag unter einer erweiterten Perspektive zu betrachten oder kulturelle Differenz-erfahrungen zu machen. Dem würden sich kommerzielle Unternehmen nicht stellen. Die interessieren sich nur für die Auslastung.
K.WEST: Länger schon ist die Tendenz zu beobachten, dass sich Kultur immer stärker über Transferleistungen legitimiert. So zielte eines der von Ihnen untersuchten Projekte auch auf die Förderung des Spracherwerbs. Dann muss sich die Kunst aber auch die Frage gefallen lassen, ob derartige Erfolge nicht effizienter erzielt werden können. In diesem Fall: durch Investitionen ins Bildungssystem.
MANDEL: Kunst und Kultur können bestimmte Bildungsaufgaben auf eine ganz eigene Weise realisieren. Das formale Bildungssystem ist sehr stark auf kognitive Lerninhalte ausgerichtet. In der Kultur geht es um sinnliches, ganzheitliches Lernen, frei von Leistungsmessung. Kunst ist nicht sinn-, aber zweckfrei. So schafft sie den spielerischen Raum, in dem alles möglich ist.
K.WEST: Aber steht diese Zweckfreiheit nicht infrage, wenn Transfer-leistungen eingefordert werden?
MANDEL: Bislang hat der Kunst und Kultursektor in Deutschland sehr stark auf seine Autonomie gepocht. Das hat dazu geführt, dass wir ein bisschen aus dem Blick verloren haben, welch produktives Potenzial für die Gesellschaft in Kunst und Kultur stecken kann. Es ist an der Zeit, das Augenmerk darauf zu richten, was die Künste für die Gesellschaft leisten können, ohne ihren Eigensinn aufgeben zu müssen.
Kulturkonferenz Ruhr, 20. September 2013. Ruhrfestspielhaus Recklinghausen