Fußball ist für viele Menschen eine quasi religiöse Angelegenheit. Für sie ist eine Einrichtung wie das Schalke Museum an der Veltins-Arena in Gelsenkirchen gleichzusetzen mit einer Domschatzkammer. Dort ausgestellt sind Objekte wie Rudi Assauers Zigarrenstummel. Die neue Direktorin des Kunstmuseums Gelsenkirchen spricht von einer »Reliquientranslation«, wenn für eine Ausstellung zur Fußball-Europameisterschaft Stücke aus dem Schalke Museum in ihr Haus wandern.
Der Begriff stammt aus der Kirchengeschichte und meint die feierliche Übertragung von Reliquien wie zurückgebliebene Körper oder Gegenständen von Heiligen von einem Ort zum anderen. Für den Prozess der zeitweisen Übertragung der Schalke-Reliquien hat sie allerdings einen Künstler engagiert, der sagt: »Fußball ist für mich keine Ersatzreligion.« Der in Hamburg lebende und an der Kunstakademie Düsseldorf lehrende Peter Piller ist trotzdem tief genug in der Fußballwelt verwurzelt, um ein Ausstellungsprojekt wie »Transferfenster« stemmen zu können. »Ich interessiere mich seit vielen Jahren für Fußball, beschäftige mich damit. Ich musste nicht erst lernen, wer Rudi Assauer ist oder Ernst Kuzorra. Ich lese jeden Monat das Magazin ‚11 Freunde‘, seit seinem Erscheinen.«
Peter Piller hat 2005 schon einmal eine ausgiebige Wanderung an den Rändern des Ruhrgebiets unternommen, hat währenddessen in Dortmund gelebt und auch das alte Parkstadion besucht. Er weiß, dass es im Ruhrgebiet eine besondere Verbindung zwischen den Menschen und ihren Fußball-Vereinen gibt – und dass die Vereine, insbesondere Schalke 04, eine besondere Verbindung zur Bergbaugeschichte pflegen. Die Gelsenkirchener Spieler werden auch »die Knappen« genannt, also Bergbaulehrlinge, weil viele, die früher in der Mannschaft spielten, auch eine Bergbaulehre machten. Auch später sind Mannschaften noch unter Tage gefahren und gingen dann mit rußverschmierten Gesichtern vor die Presse.
Aber heute schaut man schon anders auf das mittlerweile abgeschlossene Bergbau-Zeitalter – und auch der Verein Schalke 04 ist nicht mehr als sichere Bank im deutschen Profi-Fußball gesetzt: 1997 gewann er noch den UEFA-Pokal, vor fünf Jahren spielte er in der Champions League, aber als Peter Piller mit den Planungen für sein Ausstellungsprojekt im Kunstmuseum Gelsenkirchen begann, stand tatsächlich im Raum, ob er in die dritte Liga absteigt und in Folge dessen möglicherweise reamateurisiert worden wäre.
Mit diesen und vielen weiteren Informationen im Kopf hat Peter Piller das Schalke Museum besucht und auch das Stadion, Fans, alte Weggefährten, Vereins-Legenden und Orte wie die Schalker Meile, wo ein an die Dortmunder Vereinsfarben erinnerndes gelbes Haus lange als »Schandfleck« galt und mit blauen Farbbeuteln beworfen wurde. »Ich baue meine eigene Geschichte von Schalke 04«, sagt der Künstler. Das tut er auch mit eigenen Fotografien, mit Stücken aus der Sammlung des Kunstmuseums und gefundenen Objekten. Eine zentrale Gestalt für seine Ausstellung ist außerdem Yves Eigenrauch geworden. Der Abwehrspieler gehörte von 1991 bis 2002 zur Mannschaft von Schalke 04, gewann mit ihr den UEFA-Pokal und zweimal den DFB-Pokal.
Was viele nicht wissen: Yves Eigenrauch ist auch Fotograf – und als solcher genauso eigenwillig wie als Fußballer. Er hat Auswärtsfahrten oder Auslandsreisen der Mannschaft mit der Kamera begleitet und so für spannende und ungewöhnliche Einblicke gesorgt, die Peter Piller nun für seine Ausstellung benutzen darf. Er hat Mitspieler und den Trainer gebeten, dass sie für Portraits unter der Kabinendusche Modell stehen. Im Kunstmuseum werden auch Objekte wie der UEFA-Pokal zu sehen sein – aber eben nicht als Fan-Reliquie, sondern er steht gleichwertig neben einem Mini-Pokal und einem Pokal, den eine Kindergarten- oder Schulgruppe gebaut hat in den Vereinsfarben blau und weiß. Besonders interessant findet Peter Piller auch die Konstruktionszeichnungen des UEFA-Pokals, der von einem örtlichen Juwelier nachgebaut werden musste, weil das Original beim Fußballverband verbleibt.
»Ich fühle mich nicht verpflichtet, Schalke abzufeiern«, sagt Peter Piller. »Ich zeige, was andere vielleicht übersehen würden.« Dazu zählt eine vom Sonnenlicht völlig verblichene Schalke-Foto-Collage, die er in einem mittlerweile geschlossenen Reisebüro in Gelsenkirchen fand. In der Sammlung des Kunstmuseums hat er außerdem ein Gemälde von Erasmus Schlemmer entdeckt, dass Schalke-Fans zeigt, die etwas ramponiert aussehen und sich an einer Fahne nicht bloß festhalten. Sie scheinen mit ihr zu verschmelzen, mit ihren Farben und Faltungen eins zu werden.
Aus dem Schalke Museum translatiert werden neben Rudi Assauers braunem Sakko, das er getragen hat, auch der erstaunlich lange Nagel, den Klaus Fischer im Bein hatte, als er nach einer Verletzung operiert werden musste. Außerdem kommen auch die Fuß- und Handabdrücke der UEFA-Pokal-Siegermannschaft in Gips ins Kunstmuseum. »Die haben mich an Kirchen in Bayern erinnert«, sagt der Künstler, »die immer voll sind mit Wachsabdrücken – zum Beispiel von einer Schulter, die angeblich Maria geheilt hat.« Piller wird die Gipsabdrücke allerdings nicht wie im Fan-Museum präsentieren. Seine Arbeit ist auch das Herauslösen der Dinge: »Was passiert, wenn wir nur das Objekt anschauen und aus dem Kontext lösen? Als was könnte man das anschauen, wenn es nicht das wäre, was es eigentlich ist?«
Den aktuellen Fußball, der ein immer wahnsinnigerer Finanz-Zirkus wird, sieht der Künstler natürlich kritisch. »Aber ich möchte Kritik äußern, indem sich Kritik selbst äußert«, sagt er, »durch Objekte oder Konstellationen. Im Grunde bilde ich den Weg zu Schalke ab, wie er sich mir erschlossen hat, die Dinge, wie sie mir in die Hände geraten sind. Ich zeige Dinge, die das Potential haben, jenseits von Schalke 04 interessant zu sein, ohne dass man Fan ist. Ich befrage die Bilder auf ihre Fähigkeit, außerhalb des Systems Fußball zu funktionieren. Ich fühle mich nicht verpflichtet oder kompetent dazu, die große Geschichte des Vereins zu erzählen oder das System Fußball umfassend zu kritisieren. Ich bin Bildsachverständiger, habe Bildfunde gemacht.«
Ausstellungsgegenstände, aus denen die Kritik am System Fußball von selbst spricht, sind zum Beispiel eine Trommel der Trommel-Amigos mit dem Logo des ehemaligen Schalke-Sponsors Gazprom – durch das ein Riss im Fell geht. Darüber hat jemand mit Edding geschrieben: »Charles hat alles gegeben.« Oder die Fernseh-Dokumentation »Zwischenrunde. Ein Film für Evelyn Fricke«, die die Geschichte der Frau erzählt, die sich um den damaligen Schleudersitz der Schalke-Präsidentschaft bewarb – und dafür natürlich jede Menge sexistischer Kommentare zu hören bekam.
Für die noch relativ neue Direktorin des Kunstmuseums Gelsenkirchen Julia Höner ist die Ausstellung auch ein Werkzeug, um ihr vollmundiges Motto »Offen für alle« voranzutreiben. Sie will damit den Kontakt zum für die Stadt so wichtigen Verein stärken – und wird die Ausstellung auch so präsentieren, dass sie am Haus im Stadtteil Buer gleich von außen sichtbar ist, durch ein großes Schaufenster zur Straße. Das »Transferfenster« eben.
»Transferfenster«
13. Juni bis 4. August