TEXT: NICOLE STRECKER
Eigentlich sollte es nur ein banaler Warm-up-Kommentar sein – die Bemerkung, dass man im Tanz noch nie ein Stück über das Essen gesehen habe, während das Essen in der Bildenden Kunst mindestens als Vanitas-Motiv in Stillleben Geschichte geschrieben hat. Ein Einleitungssätzchen für ein Gespräch über Boris Charmatz’ neue Produktion »manger«, für die Ruhrtriennale. Doch Charmatz, der eben noch nach eigener Angabe geschlafen hat, sich bleich und müde das Gesicht reibt und durch die rötlichen Locken wuschelt, fängt an zu sprechen – immer weiter, unbeirrbar, ausdauernd.
CHARMATZ: Es gibt einige Tanzstücke, die sich mit Essen beschäftigen, von Anna Halprin oder Alain Buffard etwa, beides Choreografen, die sich auch der Bildenden Kunst nahe fühlen. Aber es stimmt schon: Das Thema ist im Tanz selten und viel häufiger im Film, in der Literatur, den Bildenden Künsten. Ich suche immer nach neuen Formaten für die Kunst. So wollte ich eigentlich ein Format mit 100 Tänzern kreieren, die einen Tagesablauf künstlerisch gestalten. Das Essen sollte dabei eine große Rolle spielen. Aber als ich zum Thema Essen improvisieren wollte, begannen wir sofort zu diskutieren. Die Tänzer sprachen über die Verbindung von Anorexie und Tanz. Darüber, dass in unserer Gesellschaft, in den Familien das Ritual gemeinsamen Essens verschwindet, weil die gemeinsame Zeit dazu fehlt. Über die politische Kraft des Hungerstreiks…
Der Choreograf assoziiert wie angeknipst, leidenschaftlich, klug, sprunghaft über seine Recherchen zu diesem ausufernden Thema, bis er offenbart:
CHARMATZ: Essen hat eine unglaublich vielseitige Metaphorik, vermutlich wird jeder Zuschauer andere Aspekte im Vordergrund sehen: den sozialen oder intimen Akt des Essens, Ekel oder Erotik, die politische oder gesundheitliche Ideologie.
In »manger« arbeiten wir ausschließlich mit essbarem Papier auf der Bühne. Was wir also machen, ist: Papier essen, uns bewegen, dazu singen. Gewissermaßen eine triple-skulpturale Arbeit, was natürlich nicht wirklich gut funktioniert. Man kann nicht gut tanzen, während man isst, nicht gut essen, wenn man singt. Und nicht gut singen, wenn man tanzt. Das eine schließt das andere aus. Aber wie es aussieht, mag ich Widersprüche.
Zehn Minuten Gesprächszeit sind mit einer einzigen Antwort um. Gleich muss Charmatz zu seinem Bühnenraum in der Jahrhunderthalle aufbrechen. Offenbar gerät ihm sein jeweiliges Arbeitsthema zur Obsession. Er gilt als gründlicher Denker. Seit er vor gut 20 Jahren begann, zählt der Franzose gemeinsam mit Jérôme Bel und Xavier Le Roy zu den drei Konzepttanz-Cracks der Szene. Kein Etikett, das er besonders schätzt.
CHARMATZ: In den neunziger Jahren gehörte ich zu einer Generation, die als Non-Dance bezeichnet wurde; wir galten als intellektuell im negativen Sinn. Aber was in der Tanzwelt als spröde und schwierig kritisiert wurde, empfand man im Museum als ganz einfach. Fast könnte man sagen: Es war zu einfach für uns. Denn wenn im Museum plötzlich ein Tänzer aufkreuzt und herumhüpft, ist das sehr anschaulich verglichen mit manch einem der Kunstwerke. Plötzlich sprangen die Museen auf den Trend auf und wollten Live-Performer, die herumrennen und schwitzen, weil dies das Museum lebendiger macht.
K.WEST: Nennen Sie sich und ihre Kompanie deshalb Musée de la danse?
Boris Charmatz nimmt einen Schluck Wasser, akzentuiert übertrieben das deutsche Wort »Spru-del-wasser«. Ja, er spreche ein wenig Deutsch, vermeidet dann rasch die Nachfrage nach dem Grund (sein Vater ist deutscher Jude, der dem Holocaust entkam) und fährt fort:
CHARMATZ: »Das Musée de la danse ist ein choreografisches Zentrum in Rennes, das ich umbenannt habe, als ich dort die Leitung übernahm. Natürlich interessiert mich das Spannungsverhältnis von Bildender Kunst und Tanz sowie die Frage, wie der Tanz seine eigene Institution aufbauen kann und in Dialog mit viel größeren Einrichtungen, eben Museen, treten kann. Wie lässt sich Tanz sammeln, wie sich dadurch eine neue Museumskunde entwickeln? Die Museen sind interessiert an uns und bisher vor allem Objekt-basierten Sammlungen, aber heute wollen sie auch Bewegungs-Museum, Ideen-Museum sein. Da funktioniert unser Musée de la Danse wie ein kleiner Think-Tank, der dazu beiträgt, die Funktionsweisen der Museen zu verändern.
Selbstbewusstsein mit Mission also. Aber dann spricht Charmatz auch über die Bescheidenheit, die angesichts ›ewiger‹ Kunstwerke jeden Tänzer mit seinem langsam verfallenden Körper erfassen muss. »Picasso im MoMA ist auch jetzt noch da!« Längst ist Charmatz in bedeutenden Museen wie der Tate Modern in London oder dem MoMA in New York aufgetreten. Auch kein großes Festival kommt derzeit ohne die manchmal nervtötenden, häufiger aufrüttelnd-insistierenden Arbeiten des 41-Jährigen aus.
In denen tanzt Charmatz oft noch selbst. Und er tanzt wie er spricht: Zäh und widerstandsfähig bohrt er sich konsequent in ein Thema, ein Bewegungsmotiv hinein, schafft Performances, die wegen ihrer repetitiven Muster etwas Skulpturales und Installatives haben. In früheren Arbeiten präsentierte er sich noch mit entblößtem Unterleib oder montierte Posen aus Merce-Cunningham-Choreografien zum skurril-historischen Medley.
In seinem 2012 bei der Ruhrtriennale gezeigten »enfant« ist es zunächst ein gewaltiger Schwenk-Kran, der sich wie von Geisterhand bewegt, eine Frau an einem Seil über den Boden schleift, ihren wehrlosen Körper in die Höhe lupft, auf den Boden tupft, wieder und wieder – ein sadistischer deus ex machina, der keine Erlösung, sondern ewige Qual bringt. Ein böses Präludium zur eigentlichen Performance, in der Charmatz dann eine Gruppe lebloser Kinder stärkeren Gewalten ausliefert: den Erwachsenen. Die Tänzer animieren die – ob schlafenden, ob toten – Kinderkörper wie Puppen. Gar nicht mal grob, doch die Wehrlosigkeit der Kinder macht die Manipulation zum übergriffig brutalen Akt. Missbrauch oder nicht?
Die Produktion löst Unbehagen aus – und brachte ihm den Titel »Choreograf des Jahres«. Die Ruhrtriennale lud ihn im Folgejahr wieder ein mit seinem vermeintlichen Rebellionsstück »Levée des conflits«. Ein unvergessliches Erlebnis für jeden, der an einem gewittrigen Abend zur Halde Haniel in Bottrop fuhr und dort droben, auf dem künstlich aufgeschütteten Bergarbeiter-Hügel, knapp 80 Minuten lang einer Mixtur aus kultischem Chaos und präzise strukturierter Choreografie beiwohnte. Eine Gruppe Tänzer, die im strömenden Regen durch Sand, Steine, Gras robbte, hektisch mit den Händen über den Boden wischte, sich ruppig an den T-Shirts zerrte. Eine tropfnasse, schlammverschmierte Gemeinschaft, die ekstatisch den Aufstand probte – und ihn zugleich ad absurdum führte. Dass es auch weniger wetter-katastrophische Aufführungen gab, beweist eine kurze Filmversion von Charmatz und dem Dokumentaristen César Vayssié, die das Museum Folkwang präsentiert.
K.WEST: In »Levée des conflits« wird ein Set von Bewegungen endlos wiederholt…
CHARMATZ: 25 verschiedene Bewegungen.
K.WEST: Anstrengend für den Zuschauer, aber es brennt sich ein.
CHARMATZ: Ich mag Long-Term-Effekte. Als Zwölfjähriger habe ich Filme von Fassbinder oder Tarkowski gesehen. Damals fand ich sie seltsam und wusste nichts damit anzufangen, aber in meinen Gedanken tauchen sie immer wieder auf. Ich wünsche mir für meinen Tanz dieselbe Nachhaltigkeit. Wenn Kinder »Levée des conflits« sehen, tanzen sie oft zu Hause ihren Eltern einzelne Bewegungen vor. Man sitzt also nicht nur und schaut zu – man lernt eine Serie von Bewegungen, um später über sie zu reflektieren. Es geht nicht um Acht-Uhr-Entertainment – und am nächsten Morgen ist alles futsch. Ich hoffe, meine Stücke behält man gewissermaßen in seinem Innern.
K.WEST: Das Musée de la danse im Zuschauer.
CHARMATZ: Ja, wir haben alle Bastard-Körper. Ich tanze, seit ich 17 bin, habe in verschiedenen Techniken trainiert, bin also ein multipler Tänzerkörper.
Zunächst hat er solide klassisches Ballett an der Pariser Oper studiert. Dann arbeitete Charmatz eher mit der Rebellen-Riege im Tanz, u.a. Meg Stuart. Zuletzt zeigte der Brachial-Tänzer im Duo mit Anne Teresa De Keersmaeker seine hochempfindsame Seite, etwa zur Musik von Johann Sebastian Bach.
CHARMATZ: Wenn ich improvisiere, weiß ich nie: Gehört diese Bewegung wirklich mir? Improvisation ist eine psychoanalytische Sitzung, wie bei der écriture automatique der Surrealisten. Man glaubt, man ist frei und schreibt in Wahrheit doch immer nur über seine Mutter.
55 Minuten sind vergangen. Mittlerweile steht seine Managerin mit gestresster Miene in der Tür. Charmatz redet weiter, man lauscht, infiziert von seiner Begeisterung. Viel hätte er noch zu sagen über seine Arbeit an »manger«, in der ihn zu diesem Zeitpunkt vor allem die »Magie des Verschwindens« interessiert, die Transformation von eben noch sichtbarem Essen in etwas Unsichtbares im Verdauungsorgan. Also vielleicht doch ein bisschen Vanitas? Charmatz lacht, bricht den Redefluss ab, steht auf, geht schnell in Richtung Probensaal. Verschwindet hinter dem Vorhang.
Boris Charmatz & Musée de la danse, »manger«: 23., 24., 26., 27. September 2014, Jahrhunderthalle Bochum. »Levée« von Boris Charmatz / César Vayssié: Filminstallation im Museum Folkwang, Essen: bis 24. September 2014. www.ruhrtriennale.de