»Play Big«. So lautet die Überschrift für ein szenisches Konzertprojekt mit Werken der nunmehr über 90-jährigen Sofia Gubaidulina, den Künstlern Michael Wertmüller und Simon Steen-Andersen sowie dem Dirigenten Titus Engel. Aber der Titel lässt sich auch über die gesamte dritte und letzte Festivalsaison von Barbara Frey setzen. Sie weiß von schleichendem Abschied nichts, geht vielmehr in die Vollen: mit allein über einem Dutzend Eigenproduktionen, darunter mehreren Ur- und Erstaufführungen an zwölf Spielstätten in den vier Städten Bochum, Dortmund, Duisburg und Essen.
»In jeder Kreatur ein Funke Gottes«. So steht es als Motto über der Originalpartitur von Leoš Janáček zu seiner letzten Oper »Aus einem Totenhaus«. Das Erlösungswort stammt von Fjodor M. Dostojewski, dessen »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« auch die Vorlage für das Libretto bilden, worin er sein Erleben als Häftling in einem sibirischen Straflager von 1848 bis 1859 verarbeitet. Das epochale Werk der Musikgeschichte, Ver- und Vorkünder der Neuen Musik, in seiner komprimierten Wucht, expressionistischen Schärfe und Härte ist eine der Hauptproduktionen der Ruhrtriennale 2023 (10. August bis 23. September). Regie führt Dmitri Tcherniakov, der 2021 in Bayreuth den »Fliegenden Holländer« inszeniert hat: er plant einen »Denkraum«, in dem sich Künstler und Zuschauer besonders nah kommen sollen; es musizieren die Bochumer Symphoniker unter Dennis Russell Davies; es singt der Chor der Oper Brno (ab 31. August, Jahrhunderthalle). In Brünn wurde übrigens Janáčeks »Totenhaus« 1930 uraufgeführt.
Am Ufer des Flusses Irtysch befindet sich das Häftlingslager, aus dem die Schreie der Gequälten tönen und in das als Neuankömmling der politische Gefangene Gorjantschikow eingeliefert wird. Die Szenen und Episoden aus der Tiefe enden mit der Möglichkeit von Freiheit, in die ein gesund gepflegter Adler vorausfliegt.
Theatralik Reise ins Innere der Erde
Frey selbst fasst das dramaturgische Grundthema ihres Festivals in den doppelsinnigen Begriff von der »Natur des Menschen«. Da ist das aufrührerische Musiktheater, das am ehesten an frühere Festival-Monumente mit Olivier Messiaens »Saint Francois d’Assise« und Bernd-Alois Zimmermanns »Soldaten« anschließt. Daneben »Die Erdfabrik« von Georges Aperghis / Jean-Christophe Bailly, deren Komponist und Autor eine imaginäre kammermusikalisch-theatrale Reise ins Innere der Erde und ihrer Schichtungen vornehmen, um in der Tiefe der Mine die Kohle zu schürfen, die Annette von Droste-Hülshoff »Kind des Lichts« genannt hat.
Und dann William Shakespeare. Frey inszeniert – wiederum in Koproduktion mit dem Burgtheater Wien wie schon ihren Edgar Allan Poe-Abend und Schnitzlers »Das weite Land« – »Einen Sommernachtstraum«. Die Fantasie über die Traum- und Irrwege der Liebe ist überhaupt der erste eigene Shakespeare für das NRW-Festival (abgesehen von Luc Bondys »Lear«-Gastspiel). Zur Eröffnung des Festivals hat die Aufführung in der weitläufigen Duisburger Kraftzentrale Premiere.
Es gehört einiges an Mut dazu, sich auf russisches Terrain zu begeben, wobei die geistige Unabhängigkeit – gewissermaßen der „göttliche Funke“ – und radikale Selbstbefragung Dostojewskis immer auch in Widerspruch zur (zaristischen) Autorität und jeder einfachen, politisch korrekten Übereinkunft tritt. Allein, »der Liberalismus hat in Russland nie wirklich Wurzeln geschlagen«, um es mit Walter Laqueur zu sagen, dem deutsch-jüdischen Historiker und Gelehrten. Dies ist die Folie, vor dem sich Dostojewskis literarischer Absolutismus behauptet.
Extremismus an einem extremen Ort
Die Künste leuchten das Extrem aus, das sich im individuellen Ich kondensiert. Weshalb es mehr als dramaturgische Klammer ist, wenn Frey ihr Festival ebenfalls mit Dostojewski ausklingen lässt: dem ersten Teil seiner »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch«, Monolog eines in sich selbst befangenen Kopfmenschen ohne Bindung und Beziehung. Ein gewaltiger Text von nietzscheanischem Eigensinn und ausdifferenzierter psychologischer Tiefe: Jemand spricht, der nicht dem Logos verpflichtet, der anti-aufklärerisch, irrational, zivilisationsskeptisch und leidenswissend ist. Extremismus an einem extremen Ort: der Mischanlage auf der Kokerei Zollverein, die in ihrer imponierenden Verschlungenheit selbst als gehirnliches Labyrinth betrachtet werden kann. Hier wird Nina Hoss sich in den Text hineinbegeben und ihn gemäß ihrer schauspielerisch distanzbewussten Klarheit und Klugheit ausleuchten.
Um diese Zentralgestirne dreht sich das weitere Programm. Im Bereich Theater bringt Gisèle Vienne »Extra Life« heraus, das sich als Archäologie eines Augenblicks begreift und eine Geschwisterbeziehung in psychische, zeitliche und erzählerische Spielräume auflöst. Der Franzose Philippe Quesne und sein Vivarium Studio kreieren den »Garten der Lüste«, orientiert an Hieronymus Boschs Gemälde. Aus Chile kommt erneut Marco Layera mit seinem Kollektiv des Teatro La Re-Sentida und befragt Bilder von Männlichkeit in »Die Möglichkeit von Zärtlichkeit«.
Den Tanz repräsentieren »Skatepark« von Mette Ingvartsen, »Exotica« der mexikanisch-chilenisch-österreichischen Choreografin Amanda Pina, die performative Arbeit »Monument 0.10: The Living Monument« von Eszter Salamon und »The Visitors« von Constanza Macras / Dorkypark, ihre Fortsetzung von »Hillbrowfication«. Ein weiteres Projekt, nicht nur für Jugendliche, ist das Objekttheater »Im Garten der Potiniers«.
Literarische Reihe mit Lukas Bärfuss
Speziell regional ausgerichtet – neben den »Wege«-Zwischenräumen – sind die gigantische Installation »My Body is Not an Island« von Eva Kot’átková in der Kulturkirche / Liebfrauen Duisburg und »Jetzt & Jetzt« von Mats Staub, der mit 100 Ruhrgebiets-Menschen eine intensive Langzeit-Selbstreflexion unternommen hat, bei der die Beteiligten nun in der Bochumer Turbinenhalle ihren eigenen Videoporträts von 2021 / 2023 begegnen werden. Lukas Bärfuss kuratiert wiederum die literarische Reihe zur »Natur des Menschen«. Nicht zu vergessen das üppige Konzertprogramm u.a. mit einem Schlagzeugmarathon von Mittag bis tief in die Nacht (26. 8.), einem Konzert mit Anna Calvi und einer Rave-Performance von Florentina Holzinger.
Barbara Frey gelingt eine ambitionierte und schwerwiegende Programmatik und macht eine Programm-Offerte, die (auch in ihrer Treue gegenüber teils bereits 2021 und 2022 eingeladenen Künstler*innen) den gesamten Dreijahres-Zyklus ebenso summiert wie überbietet.
10. August bis 23. September, www.ruhrtriennale.de