TEXT: ANDREAS WILINK
In Avignon vor drei Jahren trafen sich Anne Teresa De Keersmaeker und ihr französischer Kollege Boris Charmatz und beschlossen eine gemeinsame Arbeit. Ihre Stücke sind sich schon öfter begegnet – auch während der Ruhrtriennale 2012, wo die Flämin De Keersmaeker als Prophetin der aufziehenden Nacht und der Morgenröte mit ihren Produktionen »En Attendant« und »Cesena« gastierte, während der Star der jungen französischen Tanzszene mit seinem Musée der la danse aus Rennes das provokante Maschinentheater »enfant« entfesselte. Für das Stück mit Kindern und neun Tänzern wurde er als ›Choreograph des Jahres‹ ausgezeichnet. »Partita 2« schafft mehr als einen andachtsvollen Moment; das Spirituelle der dreiteiligen Aufführung umfasst die Gesamtheit der 70 Minuten. Und hat die Willenskraft zur geistigen (vielleicht geistlichen) Kunstbehauptung: Kommunikation ist Kommunion.
Dunkel. Nur ein Streifen Licht zieht über die breite Bühnenfläche. An der Decke leuchten matt zwei Sterne, genau genommen sind es Scheinwerfer-Spots. Die Silhouette einer Figur, beinahe nur die Ahnung davon, huscht entlang. Musik setzt ein: Johann Sebastian Bachs Partita 2 d-Moll für Violine, interpretiert von Amandine Beyer, ebenfalls im vollkommenen Dunkel, das zur Ich-Versenkung einlädt. Wenn die Suite stilisierter Tanzsätze endet, erhellt den Raum der Schattenwurf eines Rechtecks an der Wand. Die Musikerin geht ab.
Auftritt des Paars, Anne Teresa De Keersmaeker und Boris Charmatz, in aller Stille. Sie tanzen ohne die Musik, doch als hätten sie deren Nachklang gespeichert. Zwei Trainingspartner, die konzentriert eine Exercise einstudieren, Laufsprünge, rhythmische Bewegungsphrasen, Kreisformen ausloten, überhaupt sich quasi mathematisch-architektonisch den Raum erobern: Schrittfolgen abzählend, innehaltend, sich wieder in Bewegung setzend, rituelle Strategien ausprobierend. Es scheint, als würden sie einem unsichtbaren Dritten vortanzen. Es ist ein Dialog der Ungleichzeitigkeit, eine Korrespondenz aus der Differenz, Reaktionsmuster, die sich ergänzen und Leerstellen beim anderen besetzen. Wobei sie den Ton angibt, Führung übernimmt, Orientierung gewährt, Tempowechsel markiert – und er folgsam ist. Beide murmeln leise im Singsang, als folgten sie einer unhörbaren Melodie, deren Notationen sie abtanzen.
GEMEINSAME SCHWINGUNG
In einem schönen Spiegel-Bild (im dritten Teil wiederholt es sich nochmals) schreiten die Beiden im Miteinander: Sie liegt seitlich am Boden ausgestreckt. Er steht und geht. Nur ihre Füße berühren einander. Die Füße der Frau gleichen den Schatten der Füße des Mannes. Dann kehrt sich das Verhältnis um: Er setzt nun seine Schritte im Liegen, während sie sich aufrecht hält. Danach ziehen, stützen und halten sie sich beim Wechsel der Körper in dem Spannungsverhältnis von Stand und Liegen. »Einer trage des anderen Last«, wie es im Paulus-Brief an die Galater heißt. Wir spüren die Anstrengung und ein Getrieben-Sein des Duos, die Polarität von Mann und Frau und ihre Komplizenschaft, die aus innerer Ruhe zu strömen scheint. Ende des zweiten Teils.
Schließlich die Zusammenführung – Symbiose und Harmonie von Körper und Klang. Partita kommt von »partire« (lateinisch: teilen) und stiftet den Sinn für das Trio aus Solo-Violine und Tänzern. Gemeinsame Schwingung. In der »Allemande« balanciert sie springlebendig, mit ihren bekannten Hüpfern und halben Drehungen die Musik aus, bis dahin, dass De Keersmaeker die Geige mit Händen greifen will. Als müsse sie sich die Melodie mit großen Schritten aneignen, mit kindlichem Trippeln, fast ungeschicktem Staksen. Als ginge sie durch hohes Gras. In der »Courrente« stürmt dann er, kreist, stampft, stolpert, arretiert sich, startet neuerlich, umrundet die Bahn, büxt aus, unterläuft die Musik, um ihr nahe zu kommen. Die sehnende »Sarabande« nehmen sie meditativ, verlangsamt wie in Zeitlupe und lösen sich – nun in gleicher Bewegungs-Richtung – von der Schwerkraft: weich, versonnen und benommen. Es ist die integrative keusche Vermählung und atmet Sehnsucht nach dem Kosmischen. Ausschweifend und ausgelassen dann die »Gigue«. Sie wirft die Jacke fort und tanzt im knielangen schwarzen Kleid. Er hatte die Trainingsjacke längst abgestreift.
Die »Chaconne« in 32 Variationen bereiten die Tanzenden mit einem trancehaften Prolog vor. Es ist die Vollendung. Sie bleiben bodennah und sind gleichwohl hingegeben an sich und an höhere Sphären. Der ungeheure Spielmann dieser Musik ist ein Hermes und Seelenführer – auch hin zum Tode. Denn die musikwissenschaftliche Deutung hat etwas Zwingendes, dass Bach, 1720 aus Köthen heimkommend, völlig unvorbereitet vom Sterben und dem Begräbnis seiner Frau Maria Barbara erfuhr und die Chaconne unter diesem Eindruck schrieb und sie zur Leidensbotschaft formte.
Es ist kaum möglich, aus dieser wirkungsmächtigen, schlicht ergreifenden »Partita 2«-Choreografie nicht Frohe Botschaft zu lesen – von Bethlehem über Golgatha zum Ölberg. Und die sensitive, sinnliche Reflexion von Tänzern, Musik, Musikerin und Instrument, von akustischer und physischer Intensität zu empfinden. Nicht zuletzt untersuchen De Keersmaeker & Charmatz darin – wie überhaupt in ihren Arbeiten – Grundlagen, Bedingungen und Perspektiven für den Tanz der Körper als materiellem Ausdruck geistig abstrakten Wesens.
15. und 16. September 2013, Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de