TEXT: RAOUL MÖRCHEN
Das Ding sieht aus wie ein gigantischer Eierschneider aus der Antike. Heißt aber Kithara und gibt sehr merkwürdige Töne von sich. Die Kithara erinnert im Klang entfernt an eine Harfe, nur ist sie rauer, schnarrender – und, so möchte man meinen, hoffnungslos verstimmt. Doch Fehlanzeige. Die 72 Saiten, die hier in zwölf Sechserbündeln zwischen den oberen Wirbeln und den unteren Resonanzkästen gespannt sind, sie sind nicht verstimmt, sondern bloß anders gestimmt.
Anders, das heißt: richtig. Harry Partch sprach gerne auch von »Wahrheit«, wenn es um seine Musik und die Frage ihrer Frequenzen ging. Und er ließ sich nicht davon irritieren, dass die meisten anderen von dieser Wahrheit nichts wissen oder schlicht auch nicht daran glauben wollten.
Dabei hatte Partch (1901–1974) Jahre und Jahrzehnte darauf verwendet, diese Wahrheit jedem, der es wollte, vorzurechnen: In seinem theoretischen Lebenswerk, einem 500-Seiten-Schmöker mit dem unbescheidenen Titel »Genesis of a Music« ist die Logik und Notwendigkeit seiner Stimmung im Detail dargelegt. Die Kurzfassung lautet: Die im Westen gebräuchliche Skala mit ihren zwölf Tönen ist das Ergebnis einer amoklaufenden Rationalität, die die Natur nicht respektiert, sondern bloß zu ihren Zwecken ausschlachtet. Sie entfremdet den Menschen von der Welt und von sich selbst. Dabei kann der Mensch gerade mit Musik der Welt besonders nahe sein, wenn er sie so stimmt, dass sie im Einklang ist mit der Natur und den darin klingenden Obertönen. Und genau das hat Partch gemacht. Er hat die Oktave gemäß der natürlichen Obertonreihe gestimmt, er hat sie ›rein‹ gestimmt, wie man sagt, und dafür nicht in zwölf, sondern in 43 Abschnitte unterteilt.
APOLLS EIERSCHNEIDER
Eine der Konsequenzen dieser Rechenoperation steht nun vor uns, in einem Proberaum des Ensembles musikFabrik: Der Eierschneider, der zwar den Namen eines alten griechischen Instruments trägt, dem Lieblingsinstrument des Gottes Apoll, aber im Gegensatz zu diesem nicht klein und handlich ist, sondern monströs: anderthalb Meter breit, zwei Meter dreißig hoch. Um überhaupt darauf spielen zu können, muss Thomas Meixner auf ein Podest steigen. Er zupft für den Besucher ein paar Saiten an und seufzt: Allein die Bespannung der Kithara hat über zwei Tage gedauert, der gesamte Bau viele Wochen. Und jetzt, wo die Kiste endlich steht und funktioniert, muss er sie aus dem Studio des Ensembles musikFabrik noch einmal zurück in seine Werkstatt bringen – für den ersten europäischen Auftritt bei der Ruhrtriennale soll sie eine dunklere Lackierung erhalten.
Dabei ist Thomas Meixner ja eigentlich Schlagzeuger. Die vergangenen zwei Jahre aber ist er kaum aus der Werkstatt raus gekommen. Hin und wieder hat er früher schon mal Instrumente gebaut, Schlagwerk für experimentelle Musik von befreundeten Komponisten. Aber das war alles kein Vergleich zu der Arbeit, die er sich für Harry Partch aufgehalst hat. 75 Instrumente schreibt Partch vor in seinem letzten großen, Mitte der 1960er komponierten Werk, dem Tanz- und Musiktheater »Delusion of the Fury«, das gesamte Orchester, das er selbst erfunden hatte, erdacht, entwickelt und gebaut in den vergangenen 30 Jahren. Keines davon entspricht einer Norm, alle sind sie Unikate. Gottseidank sind aber nur wenige so groß wie die Kithara, nicht alle so kompliziert in der Konstruktion. Da gibt es zum Beispiel die »Cone Gongs«, das sind abgeschnittene Kegelspitzen von Flugzeugtanks aus Aluminium, die »Adapted Viola« ist eine normale Bratsche mit verlängertem Griffbrett, der »Bloboy« eine Mini-Orgel mit Faltenbalg, der Luft durch drei Pfeifen und vier Autohupen bläst, es gibt eine ganze Reihe kleiner Handinstrumente wie die »Bamboo Claves«, die aus einem Set von je zwei Bambushölzern bestehen. Sie werden als Klangstäbe einfach gegeneinander geschlagen. »Doch auch die sind nicht ganz ohne«, erklärt Meixner: »Die Rohre reagieren hochempfindlich auf Trockenheit und direktes Sonnenlicht. Ich hatte eine ganze Kiste davon gemacht und hier ins Studio gebracht. Am nächsten Tag waren sie gerissen.«
WELTWEIT DAS ZWEITE PARTCH-INSTRUMENTARIUM
Das alles für einen Komponisten, den kaum jemand kennt, allenfalls dem Namen nach, bestenfalls über eine alte Aufnahme. Der Grund dafür ist offensichtlich: Er füllt in diesen Monaten nach und nach die Räumlichkeiten der musikFabrik. Denn wer Partch hören will, braucht Leute, die Partch spielen, und wer Partch spielen will, braucht erst einmal jemanden, der seine Instrumente baut. Ein einziges komplettes Set seines Orchesters gab es bisher, fernab von Europa. Es steht in einem Gebäudetrakt der University of Montclair im US-Bundesstaat New Jersey und wird gepflegt und gehütet von einer kleinen Schar von Partch-Enthusiasten.
Als sich die Dramaturgin Beate Schüler 2011 auf Spurensuche machte nach Harry Partch, stand für sie bald fest: »Wenn man Partch in Europa spielen will, braucht man eigene Instrumente.« Denn Partch spielen heißt viel Zeit haben für Partch. Vor allem die 43-stufige Skala versperrt den schnellen Zugriff aufs Werk. Die nur handschriftlich überlieferte Partitur von »Delusion« zu entschlüsseln ist eine Wissenschaft für sich, die Notation auf die ungewohnten Instrumente zu übertragen und das Ohr zu gewöhnen an die neuen, kleinen Intervalle ein echtes Geduldsspiel. Nach vielen Wochen der Vorbereitung kann man langsam aber ahnen, wie es am Ende klingen und aussehen soll, dieses musikalische Ritual des exzentrischen Herrn Partch.
Worum es geht? Beate Schüler zuckt mit den Schultern: »Das ist konkret schwer zu sagen. Der erste der beiden Akte basiert auf einer japanischen Legende, der zweite auf einer afrikanischen. Beide handeln vom Leben und vom Tod.« Tatsächlich lässt Partchs ›Libretto‹ kaum verlässliche Aussagen zu, im Verlauf von knapp anderthalb Stunden fallen nur wenige verständliche Worte. Wesentlicher als das Verstehen einer Handlung, so Schüler, ist ohnehin bei Partch die Einheit von Musik und Bewegung. Partch will ein körperliches Ritual. Ein Gesamtkunstwerk. Die Musiker sind zugleich Darsteller und Chor, ihre Instrumente das Bühnenbild. »Kein Wunder«, sagt Beate Schüler, »dass unter den wenigen europäischen Komponisten, die Partch gelten ließ, ein gewisser Richard Wagner war.«
GOEBBELS HARRYPATARI
Damit ist nun fast alles schon geklärt. Wie nun Partch aber zur Ruhrtriennale kommt? Wer »Schwarz auf Weiß« kennt, die vielleicht meistgespielte Komposition von Triennale-Chef Heiner Goebbels, ahnt es: In dem Stück gibt es einen kurzen schrägen Satz mit dem Titel »Harrypatari« – ja, Heiner Goebbels war und ist ein große Harry-Partch-Fan und brauchte nicht lange überredet zu werden. Und da Goebbels für Partch die ganz große Bühne versprach und von Stiftungskonten beträchtliche Gelder flossen, haben Beate Schüler und die MusikFabrik gleich zu den Sternen gegriffen, zum großen Spätwerk »Delusion of the Fury« und dem dann zwangsläufigen Nachbau des gesamten Harry-Partch-Orchesters. Im August wird man es zum ersten Mal in Europa sehen und hören, in Goebbels’ Regie.
Und das soll erst der Anfang sein. Längst hat nämlich unter dem Schirm der musikFabrik das Projekt »Pitch 43« Gestalt angenommen. Auf Partchs Instrumenten kann man schließlich nicht nur Partch spielen. Schon warten junge Kollegen darauf, nach der Ruhr-Premiere auch mal zum Zuge zu kommen. Und nicht mehr bloß mit zwölf Tönen, sondern mit 43 zu komponieren.
Premiere von »Delusion of the Fury«, 23. August 2013, Jahrhunderthalle Bochum. Weitere Termine bis 7. September 2013. www.ruhrtriennale.de