Blicken wir nicht anders in die Welt seit dem 24. Februar 2022? Wenn wir im Sommer wieder die kolossalen Hallen betreten, in denen die Aufführungen der Ruhrtriennale stattfinden, haben wir dann nicht auch das Stahlwerk von Mariupol im Sinn, in dem sich ukrainischer Widerstand gegen den russischen Aggressor festgesetzt hat und wo aus einer Fertigungshalle kein Kunst-Ort, sondern ein Bunker geworden ist? Wie reagiert die Kunst, wenn der Krieg uns neues Sprechen, Denken und Handeln lehrt und „Heroismus“ kein abgelegter Begriff mehr ist? Auch die Ruhrtriennale reagiert auf diese neue europäische Katastrophe und ihre Auswirkungen.
Das „Tierische“ der Maschinen, dieser Urwesen mit stählernem Leib, so sagt es Barbara Frey bei ihrer Pressekonferenz in der Bochumer Turbinenhalle, würde sie schon lange faszinieren, und sie versuche, sich mit ihnen in Beziehung setzen. So findet sie den Übergang zu ihrem Plädoyer für „Dialogfähigkeit“ – nicht nur, aber auch für diejenigen Hunderte Menschen, die in der Kraftzentrale Duisburg Zuflucht vor dem Krieg gefunden haben, wie auch für zwei ukrainische Musikerinnen und Komponistinnen, die aus der Ferne von Kiew vom Festival carte blanche bekommen, um zumindest digital präsent zu sein.
Als Grundthema des Programms 2022 stellt sich die Frage: „Was sehen wir, worauf schauen wir, was ist unsere Perspektive, weshalb haben wir oft im Zentrum einen schwarzen Fleck etc.“ Die verschiedenen Blickachsen, so Frey, seien gerichtet auf soziale Formen des Zusammenlebens und kollektive Organismen und etwas weniger auf das Individuum wie im Jahr 2021. Die fotografische Visitenkarte dafür liefert der Fotokünstler und Drohnenpilot Mischa Leinkauf mit seinen ungewöhnlichen Blicken (und Selbstporträts) aus höchster Höhe auf die Industrielandschaft Ruhrgebiet.
Mal eben so wie einen hand- und stückfesten Spielplan für ein x-beliebiges Stadttheater lässt sich hier nichts referieren und abhandeln und angesichts der Fülle mit 107 Veranstaltungen (darunter fünf Uraufführungen) an acht Spielstätten in vier Städten auch nicht komplett listen. Das NRW-Festival ist ein Fabrikationsort für Kunst-Montage von Sprechen, Singen, Tanzen, Denken, Filmen und überhaupt Bildermachen, ihrer Wechselwirkungen und Transformationen, geografisch von China bis Brasilien und Südafrika, von Spanien bis zur Ukraine. Das gilt nicht weniger für das anspruchsvolle Konzertprogramm, ob von Olivier Messiaen und Luigi Nono oder von Lili Boulanger, Poulenc und Strawinsky unter dem Titel „Schwerkraft und Gnade“ mit dem Chorwerk Ruhr und den Bochumer Symphonikern, ob von George Lewis oder dem Schlagquartett Köln oder von Heinrich Ignaz Franz Biber, dessen barocke „Mysteriensonaten“ zur Festival-Eröffnung an drei Orten in Bochum, Duisburg und Essen erklingen.
Mit der Musiktheater-Uraufführung „Ich geh unter lauter Schatten“ beginnt das Festival und seine Kreationen am 11. August in der Jahrhunderthalle, musikalisch-lyrisch erzählend von jenen, die die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Sterben übertreten. Eine Schwelle, die auch Tabuzone ist. Die Regisseurin Elisabeth Stöppler und Peter Rundel als musikalischer Leiter kombinieren vier kontrastierende poetische Zyklen in vier Kompositionen von Gérard Grisey, Claude Vivier, Iannis Xenakis, Giacinto Scelsi, die münden in eine Reflexion über den Tod der Menschheit und des Menschseins.
Ebenfalls als szenische Uraufführung wird für das Genre Musiktheater Sarah Nemtsovs Instrumentalzyklus „Haus“ annonciert. Das Raumgebilde und seine Grundfesten werden darin abgetastet und erforscht, als sei es ein lebendiger Körper, ob Gemeinschafts- oder kontaktloses Einzelwesen (Turbinenhalle).
Die Welt vor dem Abgrund. „Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen… Das Natürliche ist das Chaos… Die Seele ist ein weites Land.“ So heißt es in Arthur Schnitzlers Tragikomödie, die als Gesellschaftspanorama vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielt. Es sind nicht nur „Herzensschlampereien“, die der literarische Seelenarzt Schnitzler betrachtet. Die Figuren existieren in einem ethischen Vakuum. Barbara Frey wird „Das weite Land“, wiederum in Kooperation mit dem Burgtheater Wien, in der Jahrhunderthalle inszenieren. Die „Mikrotonalität“ bei Schnitzler interessiere sie, sagt Frey, der der Wiener Autor und geistige Nachbar Freuds wie ein Geheimdienstagent nachspüre.
Zwei im weiteren Sinn Schauspiel-Produktionen gibt es noch. „Una imagen interior – Ein Bild aus dem Innern“ der spanisch-schweizerischen Gruppe El Conde de Torrefiel begreift sich als „poetische Übung und Vorschlag für eine Erotik der Fantasie“ alternativ zu unseren gängigen und kommerzialisierten Bildern. Nach der Uraufführung bei den Wiener Festwochen kommt das Projekt im September zu PACT Zollverein nach Essen.
Was wir sagen, wenn wir von Liebe sprechen und uns berühren lassen von der Sexualität… Auch hierfür hat die Ruhrtriennale ein Vokabular. Was die Liebe – auch – ist, wird in zwei Projekten verhandelt: eines von der Choreografin Mette Ingvartsen, das andere vom Duo Anna Papst & Mats Staub zur „Intimen Revolution“. Der umfangreiche Bereich Tanz bietet u.a. noch Arbeiten von Ligia Lewis („A Plot / A Scandal“), Constanza Macras („Hillbrowfication“) und der Chinesin Wen Hui („I am 60“).
Noch mal zurück zum Theater und zu einem Ausblick in eine utopische Zukunft vom Litauischen Nationaltheater Vilnius. Der Künstler Lukasz Twarkowski hat mit 14 Perfomer*innen einen Selbstversuch unternommen, für den sie sich als Aussteiger in die Wälder begeben und ein Experiment des Zusammenlebens durchgeführt haben: Resultat ist „Respublika“, eine sechsstündige Performance und ein inszenierter bzw. ein Rave reactetd, währenddessen sich die Zuschauer frei in der Jahrhunderthalle bewegen.
Ökonomie, Kapitalismus, Neoliberalismus beschäftigen den Filmemacher und Videokünstler Julian Rosefeldt, der 2016 weltweit – und auch bei der RT – mit seiner Installation „Manifesto“ mit Cate Blanchett zu Gast war. In seinem neuen Projekt „Euphoria“ versammelt er Texte aus 2000 Jahren zur menschlichen Gier und setzt sie gegeneinander. Bildstarke Sequenzen für das multimediale große Rauschen von „Euphoria“ (zu sehen auf der Zeche Zollverein) wurden u.a. in Kiew gedreht, bevor dort Putins Bomben einschlugen.
11. August bis 18. September
Ticketing: www.ruhrtriennale.de;
telefonisch +49 (0) 221 280-210, Mo – Fr 8– 20 Uhr / Sa 9 –18 Uhr / So 10 – 16 Uhr. Oder persönlich. Alle Vorverkaufsstellen unter www.ruhr3.com/vvk