Erinnerung, sprich! Der Roman von Klaus Weise, Regisseur und Ex-Intendant in Oberhausen und Bonn, verarbeitet deutlich autobiografisches Material. Gleichwohl scheint »Sommerleithe. Wortbegehung einer Kindheit diesseits und jenseits der Zonengrenze« ein Fantasiestück zu sein, was etwas anderes meint als Fiktion. Dichtung oder verdichtetes Erleben? Im Kunstraum bewegt man sich nicht nach diesem ’entweder oder’. Weise ruft mit dem vorangestellten Motto Vladimir Nabokov auf, der den Wahrheitsbegriff für die Kunst als beleidigend abtut.
Keine Redewendung, sondern blutiger Ernst. Der ältere Sohn des Metzgermeisters Weise steckt am Spieß. Es ist die Urszene, mit der die Geschichte anfängt und zu der sie mehrfach zurückkehrt, montiert aus Tagesspuren, Realitätsresten und Traumsequenzen. Wer mit dem Schlachten aufwächst, lernt: Leben heißt Töten. In der heimischen Fleischerei wird der Knabe Dieter am »Himmel« der Räucherkammer mit einem Räucherspieß befestigt zwischen Würsten und Schinken. Ein finsterer Vater- und Männerspaß. Angst umfängt ihn, das Empfinden von Schuld und moralisches Bewusstsein erwächst ihm – in dieser Folterkammer seines Gewissens. Denn der kleinere Bruder, der hier Klaus heißt und selbst in der Räucherkammer zu Tode kommt, ist offenbar nicht der Autor und Ich-Erzähler, sondern fließt mit ihm zusammen am poetischen Schmelzpunkt. Das Buch erzählt auch von Selbstrettung – in Stellvertretung.
Beginnend mit dem Straßennamen »Sommerleithe« als Synonym für das kindheits-paradiesische Glück und seinen Verlust, durchzieht Heimatweh den Rückblick auf die noch wirtschaftswunderlichen, vom Kalten Krieg erhitzten 60er Jahre und ihren typischen Requisiten und Ritualen wie dem samstäglichen Tanz- und Knutschvergnügen mit Reibungsgewinnen bzw. -verlusten. All dies eine Nummer kleiner gegenüber Filmen wie »American Graffiti«. Deutsche Provinz eben, wie sie auch der etwa gleichaltrige Ralf Rothmann schildert. Wobei die von »drüben«, aus dem thüringischen Gera, schließlich nach Mülheim an der Ruhr gelangende Flüchtlingsfamilie den Wert der D-Mark erst recht vergöttert.
Das Herz flimmert bei pubertären Entdeckungen und popkulturellen Attraktionen. Wir werden Zeuge von Voyeurismus, Lüsternheit und erotischer Notstände. Der Halbwüchsige bohrt fragend nach dem, was die Väter und Onkel denn in der glorreichen, zu Schanden gegangenen Vergangenheit getan haben, und blättert seinen Katalog des Gegenglücks in Film, Literatur und Musik auf.
Klaus Weise, Jahrgang 1951, hegt den Familienstammbaum, betrachtet ihn zärtlich – und legt die Axt daran. Er beschreibt Auswüchse, die mehr als nur »mulmiges« Gefühl bereiten, etwa, wenn Missbrauch durch einen Mitarbeiter des Vaters in das betäubte Bewusstsein des Kindes eindringt. Das ohnedies Verlorene, Ungewisse und Orientierungslose von Kindheit und Jugend verbindet sich mit dem spezifisch Ungewissen des Aufbruchs von Ost nach West und eines Neuanfangs mit Nichts.
»Wortbegehung« meint einen Überprüfungsvorgang. Weise ist kein naiver, kurz und bündiger Erzähler. Zum Erzählten, das üppig im Fleisch steht und von Blut durchpumpt wird, verhält sich die Erzählsprache ebenso körperlich, satt und sinnlich. Auch in den reflektierenden Passagen, die die äußere Handlung überbieten. Die 54 episodischen Kapitel suchen souverän Anschluss ans Archaische, Biblische und Mythische, verarbeiten Märchenmotive und literarische Verweise, spielen mit dem Zitat, verweben Wortspiele.
Dass der Sohn für den Vater eine Enttäuschung ist und Provokation, entlädt sich mit einem letzten Schlag ins Gesicht, bevor der 18-Jährige nach München zum Studium an die Hochschule für Film und Fernsehen geht. Aus den Schwächen des Kindes wird – dies ist mehr als nur Vermutung – künftig Stärke werden.
Klaus Weise, »Sommerleithe. Wortbegehung einer Kindheit diesseits und jenseits der Zonengrenze«, Roman, Elsinor Verlag, geb., 310 Seiten, 22 Euro