Blumenblüten knospen, springen auf und entfalten sich, wie wenn sich kostbarer Stoff bauscht. Es ist eine Pracht. Überbordend. Ein Schauspiel. Noch Natur oder schon Kultur? Mit diesem Vorspann setzt Martin Scorseses Verfilmung von Edith Whartons New York- und Gesellschaftsroman »Zeit der Unschuld« ein. Der Italoamerikaner Scorsese interessiert sich in seinen Filmen für soziale Codes: für das Zeremoniell einer Klasse, oft und meistens die der Syndikate, der Mafia-Gangster. ihrem Sprach-Sound, spezifischen Geruch, körperlichen Repertoire. Wharton – wie auch der etwas jüngere und berühmtere Henry James – sind die amerikanischen Balzacs.
In einem für Scorsese radikalen Perspektivwechsel betrachtet, untersucht, seziert er 1993 mit Silberbesteck New Yorks High Society des »Gilded Age«, wie die Netflix-Serie der Autoren von »Downton Abbey« heißt, also der Epoche des späten 19. Jahrhunderts, die alles andere als eine Zeit der Unschuld ist. Die großen Vermögen sind gemacht und werden weiter vermehrt; ab und an schafft es ein Neureicher, sich in den alteingesessenen bürgerlichen Geldadel hineinzudrängen, beargwöhnt und auf Abstand gehalten von einem System zeichenhaft formulierter Ausschließung.
Roman wie Film beginnen mit einem alljährlich wiederkehrenden Ritual: Während einer Opernaufführung verlässt Mrs. Julius Beaufort ihre Loge, um in ihr opulentes Haus zurückzukehren, wo die glänzendste Veranstaltung der Saison, der Ball bei den Beauforts, stattfindet. Wer wen einlädt, wohin reist, mit wem verwandt ist, welche Prinzipien befolgt oder bricht, auf welcher materiellen Basis steht und welche welken Blätter auf dem Familienstammbaum zu verbergen sucht: Fragen und Antworten, die ein sublimes Gleichgewicht regeln. Es sind Grundsätze, das wie bei einem Palimpsest in unsichtbarer Schrift die Verfassung dieser privilegierten Gesellschaft bestimmen.
Die mit allen verbandelte und über alle im Bilde seiende Matriarchin Mrs. Manson Mingott residiert fernab der Zivilisation in der ‚Wildnis’ am Central Park und gibt auch sonst nichts auf die öffentliche Meinung. Ihre Enkelin May Welland (Winona Ryder) hat sich mit Leland Archer (Daniel Day-Lewis) verlobt, der eine schmale Spur neben der Konvention beschreitet, ohne sich so weit von ihr zu entfernen, dass es Anstoß erregen könnte. Aus Europa kehrt Ellen, Gräfin Olenska (Michelle Pfeiffer), Enkelin der alten Mrs. Mingott und Kusine von May Welland zurück, die sich getrennt hat von ihrem dubiosen Gatten und mit der Ehe-Affäre Skandal auslöst. Sie bringt Unabhängigkeit und Ungezwungenheit, den Geschmack und das Selbstbewusstsein des alten Kontinents mit in die puritanisch strenge, engherzige Neue Welt, die doch einmal begründet worden war, um Standesregeln zu stürmen. Aber was sie an deren Stelle gesetzt hat, ist nicht minder spanisch-habsburgische Etikette.
Als Leland und Ellen aneinander Gefallen finden und die Nähe des anderen suchen, was bei aller Diskretion und Schicklichkeit unter aller Augen geschieht, setzt sich ein wohl austariertes Ränkespiel und Komplott gegen die Beiden, einem Liebespaar ohne Zukunft, in Gang, das zur Entfernung der gefährlichen Frau führt. May in ihrer naiv treuherzigen Anmut hat daran nicht geringen Anteil. Passiv aggressiv wäre wohl das rechte Wort für den Vorgang.
Leland Archer hat vom Baum der Erkenntnis gekostet, und so schwer es ihm fällt, in das Triviale und Moderate seiner Existenz zurückzukehren, er tut es. Nicht einmal unglücklich ist er, doch »wie lebendig unter seiner Zukunft begraben«. Alt geworden, auf einer Reise mit seinem Sohn nach Paris, steht er vor Ellens Wohnung. Er wird das Haus nicht betreten, sie nicht wiedersehen. Er geht fort. Vom Melodram entfernt sich »Zeit der Unschuld« mittels seiner analytischen Qualität: Lehrjahre des Gefühls, von Wharton beschrieben und von Scorsese mit Visconti-hafter, aber etwas plebejischer Eleganz und melancholischer Verzichtsgeste inszeniert.