Tohuwabohu. Konfusion. Hektik. Lärm. Nervosität. Ein Film der Unrast und der Beschleunigung. Es ist, als würde man Herzschläge hören, die außer Takt geraten. Die Kamera (Eric Gautier) stürzt sich ins Getümmel, wie in Rage, reißt Blickwinkel auf und bricht sie ab, sucht sich ein neues Objekt, verlässt es für ein anderes. Kein Bleiben, nur Momentaufnahmen. Als Prolog zur Einübung in den Extremismus und als Intensitätsschock inszeniert Patrice Chéreau die außerplanmäßigen Ankünfte.
Die Geschichte von »Wer mich liebt, nimmt den Zug« (1998) beginnt auf einem Pariser Bahnhof, wie schon ein Vorgängerfilm des großen europäischen, seit seinem Bayreuther Jahrhundert »Ring« und seiner Intendanz am Théâtre des Amandiers in Nanterre jung legendär gewordenen Film-, Theater- und Opernregisseurs Patrice Chéreau (1944-2013). Der frühere Film heißt »L’homme blessé« – der versehrte Mann. Der Körper, seine Biologie, sein Atmen und Agieren sind in Chéreaus Arbeiten sichtbare Zeichen seelischer Zustände. »Körper in Räumen, die sprechen«, das sei sein Handwerk, hat er gesagt. Dem er sich mit Mut stellt, um das »äußerste Pathos der Persönlichkeit« (Georg Büchner) zum Leben und zur Darstellung zu bringen.
Versehrte Männer und Frauen und alles dazwischen – Liebesverletzte und Leidtragende – sehen wir auch in »Wer mich liebt, nimmt den Zug«. Eine Gruppe von Menschen bricht auf zu einer Trauerfeier. Das Zentralorgan dieses Organismus von Menschen, der berühmte Maler Jean-Baptiste Emmerich (Jean-Louis Trintignant), ist gestorben und fordert mit seinem letzten Willen Familie, Freunde, Vertraute, Favoriten, Geliebte – jung und alt, beherzt oder verzagt, im Unglück zuhause oder unterwegs zur eigenen Identität – auf, an seiner Bestattung teilzunehmen. Untereinander sind sie alle irgendwie verbunden und stehen in Abhängigkeit, erotisch oder materiell, in Eifersucht, Abneigung oder durch Begehren. Darunter Emmerichs Neffe Jean-Marie (Charles Berling) und dessen frühere Frau Claire (Valeria Bruni Tedeschi), sein langjähriger Lebensgefährte François (Pascal Gregory) mit dem aktuellen Partner Louis (Bruno Todeschini), der dem charismatischen jungen Bruno (Sylvain Jacques) verfällt, sowie die vom Mann zur Frau verwandelte Viviane (Vincent Perez).
Der Zug bringt sie nach Limoges; auf der Strecke sehen sie parallel zur Schiene auf der Straße ab und an den Wagen auftauchen, in dem Thierry den Sarg mit Jean-Baptiste transportiert. Während der Nacht auf dem Emmerich-Familienanwesen drehen alle am Psychorad, bis es heiß läuft.
Am Ende von »Wer mich liebt, nimmt den Zug« gleitet die Kamera über das beinern weiße Gräberfeld des Friedhofs von Limoges, einer der größten Begräbnisstätten Frankreichs, während aus dem Off das Adagio aus Gustav Mahlers zehnter Sinfonie erklingt, dirigiert von Pierre Boulez, mit dem gemeinsam Chéreau die Bayreuther Wagner-Tetralogie gestaltet hatte. Wie das von musikalischen Leitmotiven strukturierte »Ring«-Geschehen auch, hängt in dem Film alles mit allem zusammen, schicksalhaft, bürgerlich-mythisch gegründet, heroisch und fatal. Der Film ist ein Requiem – und mehr als das, Familiendrama, Groteske, Befreiungsschlag und die Erzählung von Liebe, die nichts zu hemmen vermag.