Den Vorgang des Filmens nennt Jean Cocteau als »dem Tod bei der Arbeit zuzusehen«. In seinem Tagebuch notiert er am 16. Juli 1951 apodiktisch: »Realität gibt es nicht«. Ihn jedoch dem Surrealismus zuzurechnen, würde unterschlagen, dass in ihm ein romantisches Erbe wirkt, das durch Spurenelemente eines rasanten Pariser Futurismus modernisiert wird. Er stellt sich der Gegenwart entgegen, ruft die Nacht herbei und macht sich auf ins Mythenland, durch das freilich Automobile, Motorräder und Jazz-Rhythmen brausen, Radioapparate kryptische Nachrichten versenden und das dem vom Existentialismus geprägten Nachkriegs-Frankreich verblüffend gleicht.
Die »Orpheus«-Trilogie umfasst drei Jahrzehnte, von »Le Sang d’un poète« (1930) bis zum essayistischen Epilog »Le Testament d’Orphée« (1960), fertig gestellt drei Jahre vor Cocteaus Tod. In dem Schlussteil spielt er noch einmal – schmal wie ein Scherenschnitt, die Haut dünn wie Papier – den Fantômas seines eigenen Lebens. Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell schreibt von »Schlüssel-Bildern«, ganz im Sinne Cocteaus: »Wo immer die Poesie des Mythos als Biographie, Geschichte oder Wissenschaft verstanden wird, stirbt sie ab«.
»Orphée« beginnt im »Café des Poètes«, wo es aussieht wie auf der Pariser rive gauche. Der viel bewunderte und verhasste Orphée (Jean Marais) beobachtet den Unglückstod des jungen Dichters Cégeste, der von Motorrädern erfasst und in der Limousine seiner Mäzenin, der Prinzessin, fortgeschafft wird, nachdem die schwarz gewandete Dame (Maria Casarès) Orphée angewiesen hat, ihr zu Diensten zu sein. In einem Schloss gewährt ein Spiegel Eintritt nach Drüben. Madame La Mort, ihre Gehilfen und Cégeste durchqueren die Grenze, die vor unserem Auge und dem der Kamera als quecksilbriges Element durchlässig scheint. Die Technik der Doppelbelichtung steigert sich zum psychologischen Motiv. In der Kunst-Gegenwelt, die Georges Aurics Musik programmatisch unterstützt, existieren andere Gesetzmäßigkeiten. Schwerelos (der Film läuft sekundenweise rückwärts) bewegen sich die Gestalten, geschrieben mit der »Tinte des Lichts« ist das Schattenreich einer Trümmer- und Ruinenlandschaft.
Manege frei für einen Maskenball
Des Nachts sucht heimlich Madame La Mort, die Orphée liebt, das Haus des Paares auf, tötet, ohne Weisung, Eurydice und bringt sie in die Unterwelt. Orphée folgt ihr. Ein Tribunal verurteilt das eigenmächtige Tun der Sendbotin. Das Paar darf unter Schweigegebot und Anschauungsverbot weiterleben. Aber es ist nun eher Zwang und Kompromiss einer Ehe, Orphée den Menschen entfremdet und verbunden seinem (weiblichen) Tod, die sich für den Geliebten opfert und ihr Schicksal erfüllt »in Träumen, die traurig sind«.
»Das Blut eines Dichters« (Teil II) strömt von Bunuel und Dalí her und ist durchpulst von einem lyrisch steilen Grundton. Als »Dokumentarfilm aus irrealen Ereignissen« gehorcht er der Traumlogik ebenso wie dem spectacle und linst durchs Schlüsselloch in die Kammern des Unbewussten. Der homo artista in Gestalt des gut gebauten Enrique Riveros tritt ebenso als expressiver Zeremonienmeister auf wie als aktives Opfer seiner Imagination. Manege frei für einen großen Maskenball und eine klassische Walpurgisnacht mit Traumgesichtern, Phantomen der Kindheit, Anrufung von Eros und Thanatos, für höheren Hokuspokus, antik gewandete Kultfeier und Tricktechnik, in der ein Mund auf einer Handfläche erscheint, gemalte Augen auf geschlossenen Lidern liegen und Menschen zur Skulptur einfrieren.
Im »Testament« (Teil III) jongliert Cocteau mit Zeit, Unsterblichkeit und Paradoxien, inszeniert seine Legende und reitet seine Steckenpferde, zuvörderst den Himmel stürmenden Pegasus. Allerorten scheint seine Privatmythologie durch, in der sich Götter, Jünglinge und Künstlerfreunde wie Charles Aznavour und Pablo Picasso (von dem er manch einen Zeichenstrich übernahm) und sein Jean Marais sowie Halbwesen wie Harpyie, Zentaur und Stierkämpfer zur Leichenfeier versammeln und der Meister selbst als blinder Seher durch die Landschaft Südfrankreichs wandelt.
Cocteau, der auch Zeichner und überhaupt in allen Künsten zuhause war, benutzt die »Feder« des Aufnahmeapparats für seine Bildpoesie der raffinierten Effekte, des kunstvollen Helldunkels und optischer Täuschung im Dienst (s)einer höheren Wahrheit.