Wo sonst, als im Land von Paul Delvaux, James Ensor und René Magritte hätte dieser Film gedreht werden können. Die belgische Spielart des Symbolismus und Surrealismus, träumerisch konkret und personal, findet ihre Fortsetzung in Harry Kümels filmischen Erzählungen. Der 1940 in Antwerpen geborene Regisseur gab vor allem mit zwei Werken dem phantastischen Kino gewissermaßen Blutzufuhr: dem elegant artifiziellen Vampirdrama »Les lèvres rouges« (»Daughters of Darkness«) mit Delphine Seyrig und seiner die literarische Vorlage noch überbietenden Aneignung des Romans des ebenfalls flämischen Autors Jean Ray, »Malpertuis«. Beide Filme stammen aus den frühen 70er Jahren.
Von »schönen Wesen aus dem Fabelland« spricht Friedrich Schiller in der ersten Strophe seines Gedichts »Die Götter Griechenlands«, in der er die verschwundene Spur derer, die sich einst allerorten zu erkennen gaben, aus unserer »seelenlosen« Welt und unserem Wahrnehmungshorizont betrauert. In »Malpertuis« wird ein neuer »Bund zwischen Menschen, Göttern und Heroen« geknüpft, wenngleich kein himmlisch »schöner«, wie Schiller rückblickend dichtet, sondern ein grausig gewalttätiger.
Beim Anblick des jungen Helden Jan in »Malpertuis« jedoch mag man wohl an einen herabgestiegenen Gott denken. Mathieu Carrière unter weizenblond gefärbtem Haar im Matrosenanzug, seit jeher eine homoerotisch konnotierte Fantasie-Uniform, erscheint wie ein Ganymed, schlaksig in seiner Anmut. Er geht in seinem heimischen Hafen an Land und wird, auf der Suche nach seiner Schwester, von Sendboten seines Onkels aus einer Spelunke zu dessen Landsitz entführt. Dieser Verwandte Cassavius, ehemals Kapitän, dem Orson Welles (!) seine mächtige Statur und raumfüllend sardonische Präsenz gibt, liegt im Sterben und will sein reiches Erbe verteilen. Einst hatte der Seebär in der Ägäis auf einer griechischen Insel die Restbestände der mythischen Bewohner des Olymps gefunden und in seine feuchte Heimat verbracht, wo sie nun, unter einem bösen Bann stehend, ihr unsterbliches Dasein frönen, wobei sie sich kaum noch an ihre frühere Götter-Existenz zu erinnern vermögen.
Der Zuschauer weiß davon lange nichts, rätselt und wundert sich nur über Unerklärliches wie etwa einen kreisenden Vogel, der sich an einem Mann zu schaffen macht und diesen zu schlimmen Schreien nötigt: Es ist der gefesselte Prometheus. Auch die drei Gorgonen gehören zu den entthronten Ewigen, die freudlos im Asyl hausen. Jan verliebt sich in die schöne Euryale mit dem niedergeschlagenen Blick (Susan Hampshire), die ihm Cassavius’ als Braut auserkoren hat.
Prominent besetzt (in weiteren Rollen die Franzosen Michel Bouquet, Jean-Pierre Cassel, Sylie Vartan), zieht Kümels Film, der 1972 im Wettbewerb von Cannes lief, suggestiv in seine barocke Wunderkammer- und expressionistisch dämonische Leinwand-Welt und kommt dabei ohne banale Special Effects des Horror-Genres aus. Beunruhigend sind seine mit dem psychoanalytischen Besteck herausoperierten Bilder und Motive, die dem kollektiven Gedächtnis entnommen scheinen und sich in uns festsetzen. Ob Jan durch die Gassen des historischen Gent irrt, das Labyrinth des Schlosses wie ein organisches Wesen pulsiert oder uns das Groteske unheimlich fixiert, »Malpertuis’« Spielort ist der Traumbezirk – und in ihm der Schrecken der Sexualität die eigene Frage in fremder Gestalt.