Wir wollen nicht vom Kino ablenken, sondern zum Kino hinlenken, zu dem, was es war und – wieder – ist. Bereits zum 40. Mal stellen wir einen Klassiker des deutschen und internationalen Films vor, der nicht immer zum Kanon gehört, aber eine Rarität und Kostbarkeit ist. Bei einem der Anbieter lassen sich die Filme ausleihen, als DVD kaufen, zur Not bei YouTube besichtigen. Nur Netflix-Serien zu schauen, verengt den Blick.
Als Ludwig II. von Bayern seiner Kusine, Kaiserin Elisabeth von Österreich, Baupläne für seine künftigen Märchenschlösser zeigt und ihr von Richard Wagner vorschwärmt, höhnt sie, er würde sich der Illusion eigenen Schöpfertums hingeben, so wie auch seine Liebe zu ihrer Schwester Sophie nur imaginiert sei. Ein Traum von Leben – Traum statt Leben. Der letzte Absolutist des Schönen ignoriert die Wirklichkeit, während Bismarck mit Blut und Eisen das Deutsche Reich errichtet, die Industrialisierung beginnt und Monarchen mehr und mehr zu Kostümpuppen werden. Elisabeth ahnt, dass Menschen wie sie höchstens dann noch Realität erreichen, wenn sie jemand ermordet. Ein Schicksal, das sich für sie erfüllen wird. Und Ludwig wird im See von Schloss Berg den Tod suchen und finden.
Für seinen vierstündigen Film über den »volkstümlichen Wahnsinnigen« und »Weltflüchtigen« (Thomas Mann) besetzte Visconti 1973 Ludwig mit dem wie aus makellos weißem Marmor modellierten Helmut Berger und Romy Schneider als Elisabeth, die in der Rolle ihren dreimaligen Leinwand-Auftritt als »Sissi« radikal zertrümmert und in eisig hochmütige Beherrschtheit und sarkastisches Gelächter überführt und sich damit von ihrem Klischee erlöst.
Die Welt von gestern
»Ludwig« ist Schlusssteil der deutschen Trilogie, zu der noch die Verfilmung der Mann-Novelle »Tod in Venedig« gehört und »Die Verdammten« über die Krupp-Dynastie im Schatten des Hakenkreuzes, inszeniert als Götterdämmerungs-Tragödie über Schuld, Inzest und Fluch. Mit diesen und einigen weiteren Filmen verabschiedete sich der italienische Regisseur (1906–1976) von seinen neorealistischen Anfängen und tauchte ein in die Welt von gestern, die er umso sehnsuchtsvoller untersuchte und betrachtete, als er um das unwiederbringlich Verlorene wusste. Er konservierte es in der Üppigkeit eines Stils, opernhaft wie für ein Verdi-Musikdrama. Allein der Prolog des Films mit dem Pomp der Krönungszeremonie für Ludwig ist eine durch und durch leerlaufende Choreografie, deren volle Blüte bereits die eigene Verwesung in sich trägt.
Verwandlung ist das Ur-Motiv dieser geschichtspessimistischen Elegie. Die Veränderung, die mit dem Spätromantiker Ludwig im Verlauf der Jahre geschieht, vom strahlend schönen Prinzen bis in die Entstellung mit schwärzlich fauligen Zahnstümpfen, schütterem Haar, gedunsenen Wangen und unstetem Blick, wiederholt die abfallende Bewegung, die sich für Visconti abzeichnet: kultureller, moralischer, sozialer, ästhetischer Verfall. Sogar die Homosexualität Ludwigs, die für ihn der Ausweg aus dem Gewöhnlichen darstellt und zugleich den unauflöslichen Konflikt mit seinem katholischen Glauben birgt, wird zum Dekadenz-Stigma, selbst wenn es sich als Auszeichnung präsentiert.
Der kommunistische Aristokrat Visconti – anders als sein Landsmann Pasolini, der Hoffnungen auf ein vital erotisches Proletariat setzte – hüllte sich in den Faltenwurf der Resignation. Parallel zu Ludwigs Untergang erzählt der Film von Wagners Aufstieg. Der Komponist (Trevor Howard), der als polizeilich gesuchter Revolutionär in München Schutz findet, seinem Dirigenten von Bülow die Frau ausspannt und mit Cosima (Silvano Mangano) seine Dynastie – und Bayreuth – begründet, trägt bei Visconti die ambivalenten Züge eines opportunistischen Karrieristen, autonomen Künstlers und aufrichtigen Freundes für seinen königlichen Mäzen. Der wollte Lohengrin sein und starb, so deutet es der Film: heimtückisch von sittenstrengen Spießern entmündigt – als Siegfried.