Nicht nur das hell besonnte, klassische Hellas existiert, bei dem in unserer Vorstellung Himmel und Meer um ihre Bläue wetteifem, sondern auch ein dunkel verhangenes, winterlich nebliges, kaltes und karges Griechenland. In diesem Land sind die Figuren des Theo Angelopoulos zuhause, wenn sie überhaupt beheimatet sind. Der Mensch als Flüchtling, nicht nur in dem metaphysischen Roadmovie »Landschaft im Nebel« mit zwei Kindern, die ihren Vater suchen. Seine Figuren halten sich auf am »Ufer der Verlorenen« wie das Venedig-Buch des russischen Nobelpreisträgers Joseph Brodsky heißt, einem Melancholiker, wie auch Angelopoulos einer ist.
»Die Wanderschauspieler« heißt der Film, mit dem der damals 40-jährige Angelopoulos 1975 (am Ende der Obristen-Herrschaft in Athen) berühmt wurde, auch wegen seiner formalen Radikalität, kühnen Montagetechnik und innovativen Erzählform, der epischen Durchatmung und den zeitlichen Übersprungshandlungen. Die Chronik seines Landes von 1939 bis 1952 beginnt mit der Metaxas-Diktatur, es folgt der Krieg gegen Italien und die Besatzung durch Nazi-Deutschland, die Befreiung, der Bürgerkrieg zwischen der neuen Regierung und kommunistischen Rebellen sowie der amerikanischen und britischen Intervention. Parallel dazu wird vor dem Hintergrund des antiken Atriden-Mythos das persönliche Liebes- und Lebensdrama von Mitgliedern einer Theatertruppe erzählt, die jenseits ihrer Individualität wie Chiffren des Menschengeschlechts wirken. Die Schauspieler*innen kommen an dem Bahnhof von Ägion an, fahren weiter von Station zu Station: aneinander gebunden, prekär in ihrer Existenz, ihren kleinen Variationen des Gleichen ausgesetzt, während die Welt-Verhältnisse sich krass und mit einschneidender Gewalt wandeln. Am Ende, nach fast vier Stunden, stehen sie wieder am selben Platz: Sie sind durch die Zeit gegangen oder die Zeit durch sie hindurch.
Von Theo Angelopoulos zu sprechen, heißt – auch – von seinen Schauspielern zu sprechen: von Marcello Mastroianni als Spyros in »Der Bienenzüchter«, von Bruno Ganz graubärtig als Dichter Alexander in »Die Ewigkeit und ein Tag«, von Harvey Keitel in »Der Blick des Odysseus« oder von William Dafoe, wiederum Ganz und Michel Piccoli in »The Dust of Time«, seinem letzten langen Spielfilm von 2008, vier Jahre vor seinem Tod. Männer wie Monumente, in Stein gehauen wie die Präsidentenköpfe in Mount Rushmore, und doch porös, mürbe, versehrt.
Der suchend tastende Gang ist die Bewegung in den Filmen des in Athen geborenen, sein Studium in Paris absolvierenden Griechen, der von Godard und Antonioni, Bergman und Kurosawa beeinflusst wurde. Er schuf Bilder von magnetischer, schmerzender Schönheit, die ihn in die erste Reihe der großen Filmkünstler einstellen. Die Botschaft seiner kontemplativen Filme ist die Verheißung, wobei die eher im Vergangenen liegt. Angelopoulos’ Filme sind, wäre das kein Widerspruch (aber vielleicht ist es keiner), vitale Totentänze. Jedenfalls Elegien, die der Frage nach der menschlichen Grundbedingung nachgehen, den Verlust des Hergebrachten betrauern: Man habe nur die gewaltige Lenin-Statue vor Augen, die in »Der Blick des Odysseus« über ein Gewässer abtransportiert wird. Ideologien vergehen. Was aber bleibt? Das Elementare der Natur, die Zerrissenheit des Fühlens und die Einsamkeit des Einzelnen setzen uns Grenzen – und überdauern.