Ein maßloser Film. Maßlos in seinen Emotionen, Schreckensbildern, Abgründen, dramaturgischen Verknotungen, Figuren-Entwürfen und -Darstellungen. Andrzej Zulawski hat »L’Important, c’est aimer« (auf Deutsch: »Nachtblende«) 1975 gedreht. Eher ein Bastard, als ein Klassiker des französischen Films.
Es hätte verwundert, wenn eine der anderen beiden Diven des französischen Kinos, Jeanne Moreau oder Catherine Deneuve, die Rolle der Nadine Chevalier angenommen hätten. Nein, nur Romy Schneider, damals 37 Jahre alt, konnte sie spielen. Nicht ihre exquisiteste Rolle. Die hat sie bei Chabrol, bei Visconti und, immer wieder, bei Claude Sautet gespielt. Aber ihre hautloseste, rigoroseste, schamloseste, erschütterndste.
Ein greller, brutaler, indezenter Film – skandalös, weil schonungslos ehrlich. Am Anfang sehen wir Nadine, die während Dreharbeiten zu einem Porno mit einer blutbeschmierten Leiche Sex haben soll und dabei fotografiert wird von einem Mann, Servais (Fabio Testi), der sich an den Drehort geschlichen hat und der in diesem Moment zu lieben beginnt. Sie protestiert gegen das unerlaubte Foto-Shooting: »Nein, bitte, ich bin Schauspielerin, ich kann wirklich etwas, das hier mache ich, um Geld zu verdienen.«
»Nachtblende« erzählt parallel so viele Geschichten, dass sie drei Skripts füllen könnten. Alle handeln davon, wie Geld das Gefühl vernichtet. Es gibt Servais’ Vater, einen halbseidenen Hurenbock, der seinen Sohn an die mafiöse Ersatzfamilie Mazelli gewissermaßen verkauft hat, um seine Schulden zu tilgen. Der Kontrakt zwingt Servais, heimlich Fotos ekelhafter privater Sexparties zu schießen, um die Kunden mir ihren Lüsten erpressen zu können. Es gibt Nadines Ehemann Jacques (Jacques Dutronc), einen traurigen Clown und fanatischen Sammler von Filmfotos, der Nadine verzweifelt liebt, aber nicht zu leben vermag und sich vergiftet. Und es gibt den größenwahnsinnigen Schauspieler Karl-Heinz Zimmer (Klaus Kinski), der zusammen mit Nadine engagiert wird für ein irrwitziges Theaterprojekt zu Shakespeares »Richard III.«, das Servais unter der Hand finanziert, um Nadine eine richtige Bühne zu geben. Einmal sagt Jacques zu seinem Rivalen Servais, dem er Nadine überlassen will: »Schauspieler muss man sanft behandeln, sie zerbrechen leicht.«
»Nachtblende« ist ein Psychodrama, das einem das Herz bricht. Auch wegen der Musik von Georges Delerue, vor allem jedoch wegen seiner Hauptdarstellerin, die für ihre Extremrolle Frankreichs Filmpreis César erhielt und sieben Jahre später, am Pfingstsamstag 1982, starb. Europas größte Schauspielerin, Rosemarie Magdalena Albach, mit Künstlernamen Romy Schneider nach ihrer Mutter Magda Schneider, geschiedene und verwitwete Meyen, geschiedene Biasini, die aus Deutschland nach Paris geflüchtet war, weil sie es nicht länger aushielt, »Sissi«, Nationalheiligtum und dessen Schändung zu sein, die auf der Leinwand alles konnte, aber nur wenig im Leben, deren 14-jähriger Sohn David zu Tode kam, als er auf einen Metallzaun kletterte und von dessen Stäben aufgespießt wurde, war 43 Jahre alt, als ihr Herz – von Kummer, Unrast, Alkohol und Tabletten zerstört – zu schlagen aufhörte. »Nachtblende« konnte das alles nicht wissen, aber legt es offen, indem er einfach Romy Schneiders Gesicht zeigt. Sie ließ es zu.
Wir wollen nicht vom Kino ablenken, sondern zum Kino hinlenken, zu dem, was es war, ist und wieder sein wird. Daher stellen wir in unserer Serie „Rolle Rückwärts“ einen Klassiker des deutschen und internationalen Films vor, der nicht unbedingt zum Kanon gehört, aber eine Rarität und Kostbarkeit ist. Bei einem der vielen Anbieter lassen sie sich ausleihen, als DVD kaufen, zur Not bei youtube besichtigen. Nur Netflix-Serien zu schauen, verengt den Blick, wir möchten ihn weiten, um demnächst auf der Kino-Leinwand besser zu sehen.