»Brause« steht auf dem Klingelknopf, aus dem ein wackeliges Kabel in meterdicke Wände führt. Denn Figur Lemur proben dort, wo sich die Bochumer zu Kriegszeiten hinter reichlich Beton verschanzten – in einem Bunker in Hamme. Genau hier hatte die Combo Fritz Brause »Shilly Shally« produziert – 1985 das meistgespielte Pop-Lied im deutschen Radio. Ein gutes Omen? »Gegen einen Hit hätten wir jedenfalls nichts einzuwenden«, sagt Jonas Weu und lacht. Schließlich ginge es ihm und seinen Bandkollegen immer nur um das eine: die Musik.
Einen Hit produzieren oder Musik machen – was kein Widerspruch ist, meint dennoch zwei verschiedene Dinge. Denn was einfach klingt, ist vor allem für junge Bands das schwierigste: Wer sich als Musiker*in langfristig etablieren will, braucht mehr als nur Talent und Idealismus. Sondern auch Geld und Öffentlichkeit. Genau da setzt das Programm »create music« an, das landesweit Bands im Alter von 14 bis 27 Jahren in NRW unterstützt – durch Projekt- und Bandförderungen, Workshops und ein Expertennetzwerk.
Für Figur Lemur hatte 2017 eine Live-Session, die »create music NRW« mitorganisierte, einiges in Gang gebracht. »Wir haben uns aus dem Probenraum beworben, noch vor unserem ersten Liveauftritt«, erzählt Joscha Denzel, der Synthesizer und Bass spielt und das Booking verantwortet. Daraufhin bekam die frischgegründete Band die Chance, über das Bandnetz in Münster ein Musikvideo zu produzieren. Zwar ohne Publikum. Dafür begleitet von einem Kamerateam.
Gegründet wurde »create music« 2009 vom Kultursekretariat NRW Gütersloh zunächst für den Raum Ostwestfalen. 2013 wurde es auf Westfalen-Lippe, 2016 auf ganz NRW ausgedehnt. Seit 2020 liegt die Trägerschaft nun beim Landesmusikrat NRW. »Aber wir unterstützen das Projekt weiterhin, auch finanziell«, sagt Antje Nöhren, Geschäftsführerin des Kultursekretariats. Auch der Fokus auf Musiker*innen aus dem ländlichen Raum bleibt. Die Jungs von Figur Lemur kennen sich schon seit der Schulzeit, die Brüder Jonas und Benjamin Weu, aber auch ihr Bandkollege Joscha Denzel kommen aus Stockum. Jonas Grätzer kam 2018 dazu und ist gebürtiger Kölner.
Wird Popmusik in kleinen Orten anders als in großen gemacht? »In Ballungszentren ist der Austausch mit professionellen Musikern natürlich leichter«, sagt Grätzer, der als Schlagzeuger an die 60 Konzerte im Jahr mit verschiedenen Combos spielt, ein Drittel mit Figur Lemur. »Die Provinz hat uns zu Anfang gut getan«, findet Jonas Weu, Sänger, Komponist und Producer der Band. »Weil wir nicht viel zu tun hatten – und dadurch Freiraum für die Musik.« Schon als Schüler waren die fünf – damals noch mit dem dritten Weu-Bruder Janik – mit der Samba-Combo Barulheiros aufgetreten. 2017 kam der Neustart. Heute stehen Figur Lemur für Pop mit deutschem Rap und einem ungewöhnlichen Sound mit Gitarre, Synthesizern und Samples, tanzbaren Beats und vertrackten Brüchen. Kein Song beginnt so, wie er sich fortsetzt – gesellschaftskritische, auch selbstironische Texte gehören zum Selbstverständnis der Band dazu. Das Besondere: »Bei uns ist alles live. Auch wenn auf der Bühne ein elektronischer Sound zu hören ist, haben wir ihn vorher selbst eingespielt«, so Gitarrist und Sänger Bastian Nau. Bei ihnen gebe es kein »Synthesizer-Gefrickel«, sondern »rockig-rotzige« Live-Musik.
»Außerhalb der Metropolen sind vor allem Netzwerke wichtig«, sagt Projektleiter Carsten Schumacher. Für »create music« arbeite er daher mit regionalen Stützpunkten wie der Musikstation in Bonn oder dem Planet K in Wuppertal zusammen – auch bei der Bandauswahl. »Besonders aktiv ist das Münsterland«, so der Referent beim Landesmusikrat NRW. Woran aber misst sich Qualität? »Es geht natürlich nicht darum, wer wie viele Stunden pro Tag sein Instrument übt oder besonders viele Noten pro Sekunde spielen kann.« Voraussetzung für die Förderungen sei, dass die Bands aus NRW kommen, ihre Musik selber schreiben und im Bereich Pop zu Hause sind – allerdings fielen darunter alle Arten von populärer Musik in Abgrenzung zur Klassik oder zum Jazz. Dazu gehörten also auch Indie, Rock, Punk und Techno genauso wie Metal, Elektro, Hip-Hop, Reggae, Hardcore oder Blues.
Allein zwischen 2016 und 2018 wurden über 750 Bands, im Jahr durchschnittlich 60 Projekte und 40 Workshops unterstützt. Die prominenteste Band, die mit »create music« durchstartete, sind die Giant Rooks aus Hamm – mittlerweile eine feste Größe im Pop. »Aber unser Programm ist nur eine kleine Gehhilfe für den Weg nach oben, kein Treppenlift«, räumt Schumacher ein. »Bei solch einem Act sind auch viele andere Teil des Erfolgs – nicht zuletzt die Band selbst, die einfach drangeblieben ist.«
Dranbleiben – das wollen Figur Lemur unbedingt. In ihrem Proberaum voller Synthesizer und Schlagzeugen arbeiten sie an einem ersten Album, das 2021 erscheinen soll. Nur wenige Meter sind es von hier bis zur Jahrhunderthalle. Und bis zur Eisdiele, wo kürzlich ein großartiges Musikvideo unter der Regie von Tommy Scheer entstand. In den Hauptrollen? Der Eisverkäufer von nebenan, eine Bochumer Kindertanzgruppe, eine ausgestopfte Robbe mit Hundehalsband, Gummileguane und die Bandmitglieder selbst. Produziert aus der eigenen Tasche, mit Freunden, und: viel Idealismus. Der sich auszahlt: Inzwischen stürmen Figur Lemur nicht nur die Streamingportale – 2018 wurden sie für den popNRW-Preis als beste Newcomer nominiert. »Im Sommer haben wir auf der großen 1LIVE-Bühne bei Bochum Total gespielt«, erzählt Jonas Weu. »Alles was wir wollen ist / Strobo mit Glitter«, singt er passenderweise in der neuen Single. »Alles was wir wollen / euphorisches Zittern… zuckersüße Euphorie.«
Konzert am 1. April 2020 in der Trafostation Münster