TEXT: GUIDO FISCHER
Angeln soll ja eine Art Meditation sein. Manche mögen vielleicht dabei auf dumme Gedanken kommen. Steve Coleman hingegen scheint sich während der spiritistischen Fischzüge in einen weisen Mann zu verwandeln und baut weiter an einem Glaubensgebäude, das sich weit verzweigt. Mittelalterliche Mystik und jüdische Kabbala, asiatische Philosophie und afroamerikanische Religionen, Astronomisches und Astrologisches sind Colemans Dreh- und Angelpunkte, wenn er für sich allein in Gottes freier Natur sinniert.
Im Aufnahmestudio dann gießt er seine uferlosen Reflexionen in Form. Wie auf seiner jüngst veröffentlichten CD »Harvesting Semblances and Affinities« und in Titeln seiner Kompositionen, die auch schon mal kryptisch »060706-2319 (Middle of Water)« heißen oder »Vernal Equinox 040320-0149«, was glatt als Handy-Nummer eines entfernten Weltenlenkers durchgehen könnte. Trotz verbaler Beschwörungen des Sternzeichens Krebs oder der Tag-Nacht-Gleiche Equinox ist Coleman eines gewiss nicht: ein esoterischer Guru. Schon äußerlich betrachtet, das Gegenteil davon mit dem obligatorisch nach hinten gedrehten Baseball-Cap und im coolen Marken-Schlabber-Dress. Am Alt-Saxofon bleibt er ein irdisch zupackender Rhythmus-Jongleur.
Manch einer stößt sich wohl an Colemans spirituellen Ausflügen, mit denen er Kraft und Energie des Universums für seinen Jazz bündeln will. Doch wie schon bei seinem bewunderten Geistesbruder John Coltrane sprechen die Lebensleistung Colemans und sein Ideenreichtum für sich. Seit über einem Vierteljahrhundert entlockt er wie kaum ein Zweiter dem hochkomplexen Free-Funk-Sound knifflige polymetrische Konstruktionen, die er in einen elastischen, metrisch diabolischen Dauergroove einhängt. Mal bringt Coleman afrikanische, mal brasilianische oder indische Beats mit dem Erbe seiner Idole Charlie Parker und – wie gesagt – Coltrane zusammen. Und zwischendurch können Colemans kinetische Improvisationen mitten ins Schwarze des HipHop treffen.
Der Rhythmus als Elementarteilchen, Urquell und Universalschlüssel jeder musikalischen Kommunikation bildet den Impuls für Coleman. Die Konstante bei seinen Schöpfungsgeschichten blieb die Band »Five Elements«, 1981 in New York gegründet und nach einem Kung Fu-Film benannt, entwickelte sie sich schnell zum Sprachrohr eines Musikerkollektivs, das unter dem Stichwort »M-Base« (Macro Basic Array Of Structured Extemporization) berühmt geworden ist.
Zu sämtlichen »Five Elements«-Formationen gehörte stets mindestens ein Schlagzeuger, der Colemans Rhythmus-Reflexionen abenteuerlich anfeuert. Für die aktuelle »Astronomical / Astrological Music« verzichtet Coleman aber nun erstmals auf einen Drummer. Selbst ein Bass fehlt.
Eine Jazz-Band ohne klassische Rhythmussektion? Theoretisch hat diese neue Besetzung bisher eher abschreckende Wirkung erzielt. Als Coleman ankündigte, mit dem Projekt auf Europa-Tournee gehen zu wollen, winkten nahezu alle Konzertveranstalter ab. Als zu unattraktiv stufte man die schlagzeuglose Band ein. Nur zwei Termine sind für Deutschland herausgesprungen, einer im Oktober in einem kleinen Jazz-Club im oberbay-erischen Neuburg. Für den anderen bekommt der wagemutige Zukunftsmusiker Coleman die große Bühne beim Viersener Jazzfestival gestellt. Ganz zu Recht.
Steve Coleman 25. September 2010 in der Festhalle Viersen; www.jazzfestival-viersen.de