TEXT: ANDREAS WILINK
Zweimal blieb im Monat Mai an Düsseldorfer Bühnen ein Stück für eine Weile stehen: an der Rheinoper im »Tannhäuser«, als Wagners Musik aussetzte für ein Nazi- und Holocaust-Intermedium, woraufhin die Premiere zugleich die Dernière wurde; und im Schauspielhaus, wo Nurkan Erpulat »frei nach Horváth« dessen »Kasimir und Karoline« in der Bearbeitung von Marianna Salzmann inszenierte – und den Kleinganoven Merkl Franz zur Hauptfigur erklärt. Sein Darsteller, der Deutsch-Türke Taner Sahintürk, steigt nach 90 Minuten aus dem Drama aus und ins Parkett hinab, gibt das »Arschloch«, fordert heraus, nervt, provoziert, indem er wahllos Leute aus dem Publikum nach ihrem Erst- oder Zweitliebsten fragt: nach Arbeit, Geld und Einkommen. Handelt doch »Kasimir und Karoline« von Arbeitslosigkeit. Kasimir wurde »abgebaut«, daran geht die Liebe zwischen ihm und Karoline kaputt (»Willst Du uns oder willst Du was Besseres?«). Denn eine Liebe, das kostet immer viel. Die Düsseldorfer Fassung spielt auf der »größten Kirmes am Rhein« und ist gut, wenn sie sich und dem Publikum das Heimspiel verdirbt. Das macht auch die erste Stunde schwer erträglich, weil da noch das Rheinische auf seine Kosten und das Brauchtum zum Einsatz zu kommen scheint, so dass Horváths »Volksstück« beinahe wie ein Volksverdummungsstück ausschaut.
Bunte Reihe. Aufgereiht vor dem Eisernen Vorhang steht das Ensemble und staunt in den leeren Himmel; eine Transe singt vom »Perfect day«; es werden Köln-Witzchen gerissen und Fortuna gebasht; ein dicker Mensch (Rainer Galke), der nicht mal der OB sein soll, sondern bloß Vorstandsvorsitzender und von Horváth her als Kapitalist »Rauch« bekannt ist, eröffnet die Kirmes mit dem Dreschen kommunalpolitischer Phrasen. Das taugte vielleicht für die ZDF »heute-Show«, aber nicht für Horváth. Aber den müssen wir ohnehin während der knapp zweieinhalb pausenlosen Stunden vergessen. Wenn sich die Bühne (Magda Willi) öffnet, sind wie im Bierzelt mit Tischen und Bänken, beflaggt mit dem Rot-Weiß des Bergischen Löwen; im Hintergrund dudelt »Waterloo«, Rummel-Besucher dösen, Blasmusik trompetet das Bürgerherz weich.
Wo sich Erpulats Theater dem Lokalen eingemeindet, ist es blöd und bekicherter Heimatkitsch; wo es witzig sein will, bereitet es Verdruss; wo es das Abnormitäten-Kabinett aus Horváths viertem Bild mit einem albernen Hamlet-Hotzenplotz-Dramolett befüllt, möchte man am liebsten gehen. Wenn aber die Aufführung durchhängt, Atem schöpft und sich Auszeit nimmt, die Körper ermüden, die bärtige Transe (Christian Ehrich) traurig stakst, Utopien sich aufreiben, Aktionen leer laufen, Kasimir und Karoline (Till Wonka, Mareike Beykirch) mit sich allein und bei sich sind – und sie später noch mehr allein und er dann mit der Erna, die vorher zum Merkl Franz gehörte, dann bekommt der Abend eine wehe Lauterkeit und angeschmuddelte Melancholie, als sei Erpulat der Walter Bockmayer der frühen Kiez-Jahre, hart, mit bösem Blut und nicht gesellschaftsfähig. Jetzt ahnt man, dass das Düsseldorf-Kolorit wohl nötig war, um es im zweiten Teil gegen sich selbst zu wenden und extremistisch gegen das Gemüt zu opponieren (»Dieser Ort ist eine Strafe Gottes«). Dass noch »Die Wacht am Rhein« und anderer Agitprop ihren Auftritt haben – geschenkt. Der Geist der Inszenierung und ihre Protagonisten Sahintürk, Wonka, Beykirch sind stärker. Am Ende revoltiert eine Rockband, Gewalt eskaliert, Emotionen werden rabiat geschürt, so dass man sich an Erpulats raffiniert angeheizte Wechselstimmung und das Kippen der Verhältnisse in »Verrücktes Blut« erinnert, die Bühne rotiert, die Szene wird zum Purgatorium. Es ist kein Triumph für das Düsseldorfer Schauspielhaus. Aber ein hoffnungsvolles Zeichen.