TEXT: MELANIE SUCHY
Der britische Theatermacher Tim Etchells hat mit seiner Kompanie Forced Entertainment das sogenannte postdramatische Theater stark beeinflusst. Regelmäßig gastiert die Gruppe auf PACT Zollverein, zuletzt mit »The Thrill Of It All«, einer überkandidelten Tanzshow unter falschen Palmen, bei der Kate McIntosh als Choreografin beteiligt war. Die Neuseeländerin mit Wohnsitz Brüssel macht ansonsten eigene Performances; ihre wunderbar verschrobene »Dark Matter«-Physik war ebenfalls in Essen zu sehen. Nun wird die Frau mit der tiefen Raureifstimme und dem feinkantigen Gesicht unterm schrägen Pony, die so gut stolpern und holpern kann, dem Publikum eine Rede halten.
Sie entschuldigt sich für ihre Schweigsamkeit beim Interview. Sie lerne gerade den Text. DIN-A-4-Ausdrucke mit farbigen Notizen liegen auf dem Tisch. Anfang November denken Etchells und McIntosh noch übers Kostüm nach und beginnen erst damit, Bewegungen im Raum zu probieren. Tim stellt sich eine eher intime Situation vor, in der Performerin Kate sich in die Rolle der Rednerin findet. Sie wird das Mikrofon ergreifen, aber vielleicht auch nicht.
Bergeweise politische Reden als Video, Tonaufnahme oder Text habe er im Internet gefunden, sagt Etchells, Antritts- und Abdankungsreden, den Zwölfminüter von Martin Luther King, stundenlanges Schwadronieren asiatischer kommunistischer Diktatoren, historisch gewordene Worte und Neuware. Er schraubt das Material auseinander und montiert Einzelteile zu ungeahnten Kombinatio-nen. »Die Redeweisen, Standpunkte und die inhärenten Weltanschauungen werden einander widersprechen, kollidieren, und zwar als Äußerung einer einzigen Person«, verrät Etchells. Die Rednerin wird mehrstimmig. Sprunghaft. Man kennt das von Forced Entertainment: Die Präzision des Plumpen, Tapsigen.
Mit lautem Lesen haben die beiden allerlei ausprobiert und viel gelacht; meist hat Etchells danach den Text gerupft. Als Zuschauer müsse man nicht die Originalreden wiedererkennen, »aber die Strategien, die Art des Diskurses, der Stimme, die Bilder«, sagt er. »Reden zu halten ist immer ein Versuch, Gemeinschaft herzustellen. Die große Frage heute ist doch, wer in einer Kultur dazu die Macht, das Recht, die Möglichkeit hat«.
Reden leben, wie das Theater, von leibhaftiger Präsenz. »Sie konstruieren die Gegenwart als Gipfel. Die großen inspirierenden Reden versuchen, dieses Jetzt zu packen, die Energien der Menschen dort zu versammeln und sie in Richtung Zukunft anzuspitzen. ›Die Vergangenheit hat uns hierher gebracht, und morgen …‹.« Er gibt dem Satz einen kleinen Hall aus Pathos. Wie wird Kate McIntosh reden? »Zur Seite treten und dem Text die Arbeit überlassen«, sagt sie, »nur wenn nötig, ein bisschen zufassen«. Einige der Stimmen annehmen, die in dem Text stecken. »Etwas Groteskes näher an die Parodie rücken«, fügt Etchells hinzu, »eine Arbeit in dem Raum zwischen Menschsein und Monstersein«. Bin das ich?, wird sich der Zuschauer fragen. Spricht doch die Rednerin von »Wir«. Weil ihr »ich« Plätze wechselt, wird sich »wir« auch bewegen müssen. Es sei denn, sagt Etchells, der Zuhörer sperrt sich: »Nein! Die da versucht, mich in eine Erzählung oder Gemeinschaft hineinzuziehen. Aber ich fühle mich nicht als Teil davon. Ich bin nicht gemeint!«
Über Plattitüden, Flüchtigkeitsfehler und schiefe Metaphern ist der Autor bei der Recherche gestolpert. Einiges »Ungekämmtes« übernimmt sein Text. Kate McIntosh verdächtigt die Politiker sogar, das Schlechtgemachte bewusst zu pflegen, um nicht allzu clever zu wirken und »um die Leute einzuseifen und eben nicht für politisches Denken, Reden und Zuhören zu sensibilisieren«. Etchells sieht die Politiker hybride Masken tragen: »Sie haben Erfolg in dem Maß, wie sie diese Maske bewohnen, so dass Leute das plausibel finden. Der unmanikürte Politiker ist genauso eine Haltung. Auch dem helfen Berater: mit der richtigen falschen Jacke«. Eigentlich grotesk, findet er. Auch Futter für das Redeprojekt. Sein Plakateblog www.vacuumdays.com wurde im Laufe der Zeit dafür zu einer Referenz: »diese Kombination aus Sprachrecycling und Wut«.
Mit Analyse und Gefühlen agieren auch die anderen Künstler, die das Brüsseler Kaaitheater und die Siemens-Stiftung für »Powers of Speech« beauftragt haben: Mapa Teatro aus Kolumbien, die einen Redner mit Blaskapelle inszenieren, sowie der südafrikanische Theatermacher Mpumelelo Paul Grootboom. Ihre Reden, die sie halbfiktiven Personen in den Mund legen, handeln von den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in ihren Ländern. Dem anderen europäischen Team aber geht es, wie Etchells, um die Sprache: Die kroatische Choreografin Barbara Matijević und der italienische Schauspieler Giuseppe Chico proben »Speech!« in Brüssel. In einer Kneipe im Zentrum nahe dem Theater erläutert die muntere, hochgewachsene 33-Jährige, dass sie beide eine Reihe »kleiner Reden« schreiben. Auf der Bühne wird sie allein stehen.
Als Bürgermeisterin eröffnet sie dann ein Shopping-Center, sie lehnt einen Kunstpreis ab, gibt einen Trinkspruch aus über die fehlerhafte Evolution des Körpers, betrauert einen Verstorbenen. Die Reden sollen konventionell wirken, mit Personen- und Ortsnamen, und kaum merklich ins Fiktive abdrehen. Merkmale und Definitionen von öffentlicher Rede stellt die Performance so auf den Prüfstand. »Der leidenschaftliche Vortrag kann unlogische Dinge in einen scheinbar sinnvollen Fluss bringen. Eine trockene, objektive Haltung wiederum kann mit logischem Gedankengang zu einleuchtenden Schlussfolgerungen kommen, die im Grunde abwegig sind.«
Auf Politik im engeren Sinne wollen sie sich nicht beschränken. Politisch sei ja schon diese Verabredung, sagt Barbara Matijević: »Jemand oder eine Gruppe tritt die Möglichkeit zu sprechen ab, tritt zurück, damit jemand anders vortreten kann«. Dass die Schweigenden dafür vom Redner eine Art Gegengabe erwarten, habe archaisch-rituelle Züge: »Mach, dass wir uns besser fühlen!«
In Jugoslawien hat sie die Phrasen der Kommunisten noch erlebt. Die engagierten Reden der Zeit des Umsturzes wieder zu lesen, habe sie beschämt, weil die Politik danach keinen guten Weg nahm. »Politisches Reden hat sich kompromittiert.« Krieg aber würde heute niemand mehr wegen einer Rede anzetteln. »Nichts, was gesagt wird, hat Wirkung«, sagt Barbara Matijević über die andere Seite der Medaille Redefreiheit. »Große Reden, die Menschen beeinflussen wollen, riechen nach Ideologie. Jeder sagt: Ich entscheide selber. Das ist auch Ideologie! Wir glauben nicht mehr, dass uns jemand bewegen könnte und dass wir jemanden bewegen könnten«. Ihre Performance ist ein Wiederbelebungsversuch. »Schön wären Reden, die Leute veranlassen, über sie zu reden. Rede, die Rede produziert, also sich selbst regeneriert.«
Forced Entertainment: »Tomorrow’s Parties«, 2. und 3. Dez. 2011; Tim Etchells / Forced Entertainment: »Although We Fell Short«, 15. Dez. 2011; Mapa Teatro: »I’m a decent man who exports flowers«, 15. Dez. 2011; Barbara Matijević / Giuseppe Chico: «Speech!«, 17. Dez. 2011; Mpumelelo Paul Grootboom: »It’s a Rhetorical Question«, 17. Dez. 2011. www.cznrw.de