Silikonbrüste, Botox-geglättete Gesichter, abgesaugte Bäuche, gebleichte Hautfarbe, künstlicher Penis. Real Bodies? Und was ist mit Brillen, Zahnersatz, Hörgeräten, Hüftgelenken, Herzschrittmachern. Echte Körper? Wo hört Natur auf und fängt die Retorte an? Eine Frage, die zur Körperkunst Tanz gehört wie der Schmerz, mit dem der Leib oft von Kindesbeinen an gestählt, gedrillt, gepimpt wird. Im Profi-Tanz waltet ein seltsamer Zwiespalt: Der eigene Körper ist narzisstisch beäugtes Heiligtum und zugleich ganz profanes Arbeitsmaterial, das unbarmherzig strapaziert und manipuliert wird.
»Tanz wurde lange als Technik gesehen, um den ›idealen‹ Körper herzustellen«, sagt Bettina Masuch, Leiterin vom Tanzhaus NRW. Denn in Ballett und Neoklassik galt und gilt die Devise: Großartig ist, was maximal unnatürlich ist: Spitzenschuhe, Gummigelenke, übermenschliche Sprünge. Mit dem Ausdruckstanz wallte erstmals auch natürlich-üppige Weiblichkeit über die Bühnen, die man aber – nicht nur wegen des mitschwappenden spirituell-rassistisch-nazistischen Mumpitz’ – nicht lange ernstnehmen wollte.
Heute präge den zeitgenössischen Tanz noch immer der Dreiklang »jung, schlank, fit«, so Masuch. Zugleich hat sie in den vergangenen Jahren einen Gegentrend festgestellt: Spätestens seit den 80er Jahren wird fleißig Kritik an den herrschenden Körperkonzepten geübt, allerdings von überwiegend ziemlich normgerecht-perfekten Tänzerleibern. Marie Chouinard ließ Ballerinen in Prothesen tanzen, das Nederlands Danse Theater III feierte seine rüstigen Seniorenstars, Meg Stuart inszenierte kunstvoll Traumata. Zunehmend gebe es in jüngster Zeit aber auch jene Choreografen, so Masuch, die das »Anti-Ideal« in ihre Ensembles integrierten: alte, kranke, korpulente, behinderte, transsexuelle Tänzer, und zwar oft ohne die Besonderheit bzw. Andersartigkeit überhaupt zu thematisieren. Unprätentiöse Inklusion.
Beispiel: Doris Uhlich. Vor acht Jahren trippelte die Österreicherinals ätherische Nymphe auf Spitzenschuhen über die Bühne, nur, dass ihr Körper eben so gar nicht flöckchenzart ist. Moppelchen-Romantik statt Hungerhaken-Pathos. Denn nicht das Filigrane, sondern das Fleisch interessierte Uhlich im Tanz. Wie jeder ambitionierte Choreograf entwickelte auch sie ihre eigene Lehre: die »Fetttanztechnik«. Was genau tanzt eigentlich, wenn ich tanze?, so lautete ihre Ausgangsfrage. Also weg mit Sport-BH und Strumpfhose und Blick frei auf zitternde Muskeln, gespannte Sehnen, gewrungene Haut und vor allem: wackelndes, schaukelndes, hüpfendes Fett.
»more than naked« heißt ihre 2013 entstandene Produktion. 20 Tänzerinnen und Tänzer, alle nackt und eigentlich ganz stramm-muskulös gebaut. Aber schnell wird klar: Problemzonen gehören nicht nur den Fülligen dieser Welt. Zur Dancefloor-Musik von der ebenfalls hüllenlosen DJane Doris Uhlich wird nun abgehottet, bis, pardon, die Schwarte kracht. Jede Region am menschlichen Körper kann in Schwingungen versetzt werden: Po-Backen zittern, Waden schaukeln, Brüste hopsen, selbst Wangen vibrieren. »Mein Fleisch hat Spaß«, lautet der Slogan dieser Produktion, denn die Nacktheit erfreut sich hier ganz ohne erotische Verkrampfungen und zivilisationsverordnete Schamgefühle ihrer ungeschönten Wahrheit.
Mit Uhlichs Fetttanz-Happening eröffnet das Tanzhaus NRW seine »Real Bodies«. Es folgt »BIS – ein Solo für Truus Bronkhorst«, das sensible Porträt einer alternden Tänzerin vom Belgier Jan Martens. Sowie die konfrontative Installation »ID Clash« über das dritte Geschlecht, also Transsexuelle in Europa und Asien von den Kölner Performancekünstlern Angie Hiesl und Roland Kaiser. Speck, Sex, Senioren – und eine Kunstform bei ihren Basics.
Eröffnung am 8. September 2016 mit Doris Uhlichs »more than naked«; Tanzhaus NRW, Düsseldorf.