TEXT: REGINE MÜLLER
Inszenierungen von Mozarts »Figaro« haben das Problem, mit allzu forschen Aktualisierungen die Spannungen einzukassieren, die das turbulente Geschehen vorantreiben. Denn es sind nicht nur amouröse Verwicklungen und Intrigen, die im Hause Almaviva die Sinne verwirren. Es ist vor allem das baldige Ende der Feudalherrschaft, wenn die Französische Revolution gesellschaftliche Klassenverhältnisse und erotische Hierarchien ins Rutschen bringt. Regisseur Peter Hailer und seine Ausstatter Etienne Pluss und Uta Meenen finden in Gelsenkirchen einen eleganten und intelligenten Kompromiss zwischen historischen Verweisen und Aktualität. Die dunkle Holzvertäfelung erinnert an Kanzleiräume der 50er Jahre, durch einen Spalt schiebt sich das weiße Plüschbett der Gräfin herein. Die Kostüme spannen den Bogen von Kunstfaser-Kleidchen der 70er bis zum Prekariats-Fummel; auf den Köpfen balancieren lädierte Rokoko-Perücken. Der krude Stilmix verträgt sich erstaunlich gut und entwickelt beträchtlichen (aber keinen albernen) Witz. Schnörkellos und präzise eingerichtet, bekommen die Figuren scharfe Kontur, ohne überzeichnet zu werden. Einigen Anteil an der gelungenen Dramaturgie haben die exzellenten Übertitel, die in heutiger Diktion auf das tatsächlich inszenierte Drama abgestimmt sind. Dass das Grafen-Paar (Michael Dahmen, Petra Schmidt) etwas blass bleibt, liegt eher an der stimmlichen Disposition. Wunderbar präsent, ohne Kammerkätzchen-Getue dagegen Alfia Kamalova als Susanna und Piotr Prochera als ihr vitaler Zukünftiger, spielfreudig trotz krankheitsbedingter stimmlicher Beeinträchtigung Anke Sieloffs Cherubino. Grandios auch das Defilée des Chors: Jeder Knicks, jeder untertänige Gruß atmen trotzigen Hohn und aufsässige Verachtung für die Herrschaft. Ebenso virtuos gelöst ist der vierte Garten-Akt, wenn die Personen sich in wanderndem Ziergebüsch verstecken, rein- und rausschlüpfen und sich raschelnd bewegen. Musikalisch bringt der junge finnische Kapellmeister Valtteri Rauhalammi den Abend auf hohe Touren, schon die wirbelnde Ouvertüre ist meisterhaft musiziert und hält ihr elektrisierendes Tempo.