TEXT: STEFANIE STADEL
Fleck für Fleck. Man kann ihm dabei zusehen, wie er den dicken Pinsel an die weiße Wand drückt – wieder und wieder, im exakt vermessenen Abstand von 30 Zentimetern. Als Künstler macht Niele Toroni schon lange nichts anderes mehr: Seit vier Jahrzehnten hinterlässt der 1937 geborene Schweizer seine Tupfen an Museums- und Galeriewänden zwischen Kassel und New York.
Aber nicht einfach so. Bevor er erneut loslegte, ging er auch in Essen auf die Suche nach der rechten Stelle. Toroni sah sich genau um zwischen Ecken, Öffnungen, Vorsprüngen. »Ich habe einfach nur meinen Pinsel in der Tasche, eine Wasserwaage, einen Zirkel, ein Zentimetermaß und einen Topf Farbe«, erklärt der Mann mit dem weißen Bart. »Und ich habe Zeit. Kann in aller Ruhe einen Ort für meine Arbeit aussuchen.«
Im Museum Folkwang wählte er den Eingang zur großen Ausstellungshalle. Wie zwei Flügel flankieren seine aus Flecken geformten Dreiecke dort die breite Türöffnung. Dazu passt der Titel des Werkes: »Volare«, »Fliegen«. Drinnen haben sich acht deutlich jüngere Kollegen an die Arbeit gemacht und führen die Idee einer »Malerei im Raum« in die Gegenwart – zuweilen auf entlegenen Flugbahnen, doch, Toronis Beispiel folgend, durchweg ziemlich unbeschwert. Mit bunten Körpern im Raum etwa oder mit rosafarbener Vaseline in Cellophan. Mit gestischen Rakelschwüngen auf Stahl oder mit naiven Landschaften, die in Kohle unmittelbar auf die Wand gebracht sind.
IN DEN 60ER JAHREN VERLIESS DIE MALEREI DEN RAHMEN
Wie diese Kunststücke sind auch Toronis Tupfen im Museum Folkwang ganz frisch. Doch steckt hinter ihnen ein markantes Stück Vorgeschichte, die bis heute wirksam scheint. Erinnern die Farbflecken im Raum doch an die 60er Jahre, als sich die Malerei mit Macht den Weg aus dem Bildrechteck bahnte.
Ansätze gab es freilich schon früher. In Essen liegt der Gedanke an Oskar Schlemmer und dessen 1930 vollendete, heute verschollene Wandbilder für den Brunnenraum im Folkwang Museum nahe. Auch könnte man sich an seine Bauhaus-Kollegen erinnern, die bereits in den 20er Jahren aus Malerei, Architektur, Mobiliar ein wohnliches Gesamtkunstwerk zu schaffen suchten. Gegen Ende der 60er aber wurden solche »Pfade« aus dem Bild heraus zur »breiten Straße« ausgebaut, wie der neue Museumsdirektor in Essen, Tobia Bezzola, es formuliert.
So stand denn auch Toroni mit seinen 1967 erstmals auf die bloße Wand gebrachten Pinselabdrücken damals durchaus nicht allein da. Ähnliche Ideen einer Malerei auf Zeit an der Wand verwirklichten etwa Daniel Buren, der das vertikale Streifenmuster als Markenzeichen entwickelte oder auch Blinky Palermo, etwa wenn er einen breiten blauen Balken durch die Museumsräume zog.
DAS ENDE DER MALEREI WAR KEINES
Vom »Ausstieg aus dem Bild« sprach der Kunsthistoriker Laszlo Glozer im Rückblick auf die bewegte Ära und wird mit dieser griffigen Wendung immer wieder gern zitiert. Eine ebenso weit verbreitete These behauptete um die gleiche Zeit kühn das »Ende der Malerei«, musste aber schon bald revidiert werden. Spätestens als der »Hunger nach Bildern« einsetzte und mit reichlich neoexpressiver Kost in Öl auf Leinwand gestillt wurde.
Ja, die Malerei hat einiges durchgemacht in den vergangenen paar Jahrzehnten. Was geblieben ist, sind all die Fragen und Zweifel: Malen, heute? Was soll das? Ist nicht alles schon zigfach dagewesen? Maler von heute antworten mit einem extrem breiten Spektrum an Möglichkeiten. Dabei bedienen sie sich ganz selbstverständlich einer Kunstform, die jenseits der althergebrachten Begrenzung des gemalten Bildes ansetzt. Beliebter als je zuvor scheinen jene raumgreifenden bildmäßigen Installationen, wie sie nun in Essen die große Halle besetzen. Jeder der acht Künstler füllt hier einen eigenen Raum mit seiner Malerei und verleiht dabei der Traditionsgattung erstaunlich vielfältige Form und Gestalt.
Der 1976 geborene Däne Simon Dybbroe Møller etwa setzt seine gestischen Rakelschwünge auf Metallplatten, die er zerschneiden und anschließend zu geometrischen Objekten zusammenschweißen lässt. Die auf diese Weise gefalteten Bilder besetzen im Museum Folkwang den Fußboden und mögen den Besucher an Designobjekte erinnern. Das wäre sicher ganz im Sinne des Künstlers, der die Stücke ironisch als »Anti Urination Device« tituliert. Nicht nur Kunstwerke also, sondern obendrein nützliche Eckensteher, die das verbreitete Urinieren an versteckten Orten unterbinden sollen.
Wie Møller so kehrt auch Wolfgang Flad die Malerei ins Skulpturale. Diesmal sind es keine kantigen Stahlkonstrukte, sondern gefällige Elemente aus farbenfroh lackiertem Holz, die sich im Raum verteilt finden. Der müde Besucher kann sich darauf niederlassen, der muntere darf aktiv werden, sie verschieben – und so das kunterbunte Bild frei verändern.
BILDER AUF ROLLEN
Zum Mitmachen lädt ebenfalls Johannes Wohnseifer ein. In Essen hängt der 1967 geborene Kölner gerasterte Bilder auf und stellt mit buntem PVC bespannte Paravents zur Disposition. Man kann sie auf Rollen nach Belieben umherbewegen und beim Hindurchschauen die Malerei an der Wand in immer neuem Licht erleben – Obamas Konterfei orange oder gestreift, ganz wie es gefällt.
Ebenso bemerkenswerte Vorstellungen geben in der Schau Franz Ackermann, der mit einer explosiven Raum-Inszenierung zu überwältigen weiß. Das vielschichtige Leinwandbild dabei ganz eng in Kontakt bringt zu knalligen Wandmalereien. Oder auch Karla Black mit ihrem raffinierten Geflecht aus zu Stricken geknüllter Cellophan-Folie. Es hängt nicht vor der Wand, sondern läuft zwölf Meter lang mitten durch den Raum. Das macht sich gut, erinnert allerdings nur noch sehr entfernt an Malerei – allenfalls jene unscheinbaren Kleckse, Flecken, Schmierer aus rosafarbener Vaseline, die in der knitterigen Folie kleben, könnten daran denken lassen.
Solche Inszenierungen machen ganz klar, wofür die große Halle in David Chipperfields Essener Museumsneubau gut ist – und dass Bezzola richtig liegt mit seinem Vorsatz, sie künftig regelmäßiger als bisher zu nutzen. Die Malerei im Raum macht den Anfang. Unter dem schwer durchschaubaren, einer Liedzeile der Einstürzenden Neubauten entlehnten Titel »Nur was nicht ist ist möglich« zeigt sie beispielhaft auf, wie die Widersprüche zwischen Bildraum und architektonischem Raum heute angegangen, angesprochen, aufgelöst werden. Eine »Augenblickdiagnose«, nicht mehr. Wer nach kunstgeschichtlichen Hintergründen sucht, dem bleibt in Essen nichts als der Blick auf Toronis Tupfen. All die wegweisenden Veränderungen, die Umbrüche der 60er Jahre sind dabei allenfalls zu erahnen. Ebenso die vielfältigen Impulse der Lösung von bis dahin gültigen Normen.
Mehr retrospektiven Tiefgang verspricht die Kunsthalle Bielefeld, die sich in Kooperation mit der Kunsthalle Baden-Baden ab August rein zufällig einem ganz ähnlichen Thema annimmt. In der Ausstellung »Auf Zeit« soll es hier um »Wandbilder und Bildwände« gehen.
Diesmal will man sich aber nicht auf die Parade zeitgenössischer Positionen beschränken. Geplant ist daneben ein historischer Part mit Rekonstruktionen wegweisender Wandbilder von Künstlern wie Sol LeWitt, Richard Tuttle und Palermo. Bestens in diese Reihe fügt sich eine Arbeit, die seit über 40 Jahren sowieso in Bielefeld zu Hause ist: Otto Herbert Hajek hatte sie 1971 in den Grundfarben Blau, Gelb, Rot im Untergeschoss des Gebäudes an die Wand gebracht.
Was bei Toroni, Hajek, LeWitt, Palermo noch als rebellische Geste gegenüber dem Kunstmarkt gelten konnte, ist inzwischen fester Bestandteil zeitgenössischer Kunstproduktion. Und während bei den Vorreitern noch ein paar Tupfen oder Streifen genügten, will das Publikum heute schon etwas mehr – Farben, Effekte, Opulenz, Überwältigung. Es will schlicht beeindruckt werden. Und das gelingt – fürs Erste – der Schau in Essen mit überraschender Leichtigkeit.
Museum Folkwang, bis 28. Juli 2013. Tel.: 0201 / 8845 000. www.museum-folkwang.de
Kunsthalle Bielefeld, 4. August bis 20. Oktober 2013. Tel.: 0521 / 32999500. www.kunsthalle-bielefeld.de