// Seine Studenten in Ulm nannten ihn »der vollständige Mensch«. Schon zu Lebzeiten des vor 100 Jahren geborenen Max Bill fel es schwer, ihn auf eine einzige Disziplin festzulegen. Der Künstler Bill malte und schuf Plastiken. Der Architekt Bill plante Umweltgestaltung, lange bevor daraus eine Disziplin wurde – und er unternahm es mit einem universalen Anspruch, der in seiner Forderung »vom Löffel bis zur Stadt« eine klassisch gewordene Formulierung gefunden hat. Der Politiker Bill bemühte sich, den gesellschaftlichen Rahmen für Kunst, Grafikdesign, Produktdesign, Architektur und Stadtplanung zu formen. Der akademische Lehrer und Publizist Bill schlug den Bogen von der Theorie über den Unterricht zur Praxis in einem Regelkreislauf mit einer Umdrehung mehr als die zeitgenössischen Akademien und Technischen Hochschulen.
Max Bill war ein eigensinniger Schweizer. Schon der 17-Jährige fällt auf, nicht zuletzt als Silberschmied-Lehrling an der Kunstgewerbeschule Zürich. Eine seiner Lehrerinnen ist Sophie Taeuber. Von seinen Arbeiten ist sie so überzeugt, dass sie dank ihres Votums als Jurorin 1925 in Paris gezeigt werden. Nicht irgendwo, sondern im prestigeträchtigen Grand Palais auf der »Exposition internationale des Arts décoratifs et industriels moderne«. Eine legendäre Ausstellung, denn der verkürzte Ausdruck Art déco geht auf den vorherrschenden Stil der hier präsentierten Objekte zurück. Zwei Jahre später muss Bill die Schule ohne Abschluss verlassen, weil er am Morgen nach einer Karnevalsfeier im Unterricht erscheint, ohne sich abgeschminkt zu haben.
Mit der Preissumme aus dem Sieg bei einem Plakatwettbewerb der Firma Suchard und mit Unterstützung seines Vaters kann er 1927 nach Dessau ans Bauhaus gehen. Er will Architektur bei Hannes Meyer studieren, doch die geforderte Vorbildung fehlt. So darf er nur in die Metallwerkstatt unter László Moholy-Nagy. Danach besucht er die Bühnenklasse unter Oskar Schlemmer, in der Studenten die größten Entfaltungsmöglichkeiten genießen. Zuletzt nimmt er an den freien Malklassen unter Wassily Kandinsky und Paul Klee teil. Ein Bühnenunfall zwingt ihn, seine finanziellen Mittel für eine Zahnbehandlung einzusetzen, so dass er das Studium am Bauhaus 1928/29 aufgeben muss. Bill lässt sich in Zürich nieder und arbeitet als Künstler, Grafiker und Architekt mit politischem Engagement: Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland beherbergt er widerrechtlich, für den Mitgründer der italienischen KP, den Schriftsteller Ignazio Silone, entwirft er Bücher, die er sogar 1936 im faschistischen Italien als verantwortlicher Gestalter des Schweizer Pavillons auf der Mailänder Triennale ausstellt.
Höchst unterschiedliche Ergebnisse seines Schaffens werden gemeinhin mit Max Bill verbunden: Die Granit-Skulptur einer unendlichen Schleife, »Kontinuität«, vor dem Haupteingang der Deutschen Bank in Frankfurt gehört zu seinen bekanntesten Plastiken. Die Wanduhr für den deutschen Hersteller Junghans schlug in den 1950er Jahren in unzähligen Küchen. Als Architekt und Gründungsrektor der Ulmer Hochschule für Gestaltung ist er ebenfalls weithin ein Begriff. Darüber hinaus zählen seine Bilder zu denjenigen Arbeiten, die sich in das visuelle Gedächtnis einer auf die Moderne ausgerichteten ganzen Generation eingebrannt haben: dank der klaren Farben und reduzierten geometrischen Strukturen, oftmals als Quadrat, das auf die Spitze gestellt ist. Einzelne Motive erscheinen heute auf Postkarten oder Postern, fast wie eine zum Klischee geronnene Ikone der 70er Jahre. Diese Aus- und Nebenwirkung des Kunstbetriebs wird der Persönlichkeit Bills freilich nicht gerecht.
Er zählt zu den wichtigsten Protagonisten der Konkreten Kunst, schließt sich 1932 der Künstlergruppe »abstraction – création« an, die auf Initiative des belgischen Künstlers und Architekten Georges Vantongerloo in Paris entstanden war, mit dem er sein Leben lang in Freundschaft verbunden bleibt. Theo van Doesburg, ebenfalls Mitglied der Gruppe, hatte den Begriff der Konkreten Kunst 1924 für eine Haltung eingeführt, die die materielle Wirklichkeit nicht abstrahieren will. Ihre Werke sollen keinerlei symbolische Bedeutung besitzen, sondern nur das sein, was sie sind. Die bevorzugte Methode zu ihrer Erzeugung ist geometrische Konstruktion. Strenge Rationalität gilt als Königsweg in eine bessere Zukunft.
Die Gegenwart in der Epoche des europäischen Faschismus sieht düster aus. Max Bill ist politisiert, denkt radikal, schreckt selbst vor dem Gedanken an ein Attentat nicht zurück, das er gemeinsam mit Max Ernst ausüben will, doch er besinnt sich. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs setzt er sich mit der Frage auseinander, wie Europa wieder aufzubauen sei – nicht nur städtebaulich bzw. architektonisch, sondern auch politisch, gesellschaftlich und kulturell. Seine Publikationen und Aktivitäten erwecken bei den jungen Deutschen, die ihn als Fixstern entdecken, den überwältigenden Eindruck einer Omnipräsenz.
Er verfasstt kunsttheoretische Aufsätze, in der er das Ziel der Konkreten Kunst darin bestimmt, »gegenstände für den geistigen gebrauch zu entwickeln, ähnlich wie der mensch sich gegenstände schafft für den materiellen gebrauch. … konkrete kunst ist in ihrer letzten konsequenz der reine ausdruck von harmonischem maß und gesetz. sie ordnet systeme und gibt mit künstlerischen mitteln diesen ordnungen das leben« (1947). Nahezu gleichzeitig entwickelt er die designtheoretisch folgenreiche These von der »schönheit aus funktion und als funktion« (1948) und die Wanderausstellung »Gute Form«, aus der später in der Breite eine Design-Ideologie abgeleitet wurde, für deren eindimensionale Banalität man Max Bill nicht verantwortlich machen kann.
1950 wird Bill von Inge Scholl und Otl Aicher eingeladen, sich am Aufbau einer neuartigen Ausbildungsstätte in Ulm zu beteiligen. Aus dem idealistischen Ansatz einer politischen Schule mit künstlerischen Fächern formt er das realistische Konzept einer Hochschule für Gestaltung mit politischer Grundierung. Die Eröffnungsrede hält Walter Gropius. Er plädiert dafür, das »Magische« im Leben nicht zugunsten des Rationalen aufzugeben – und provoziert damit unter Studenten und Dozenten dieses »Klosters zum rechten Winkel« (Bernhard Rübenach) eine energische Debatte. Ironie der Geschichte: Max Bill zählt hier eben nicht zu den Rationalisten. Kurz darauf wird er gerade von den Kollegen aus der HfG gedrängt, die er selbst mit nach Ulm geholt hatte, um die Wissenschaftlichkeit der Ausbildung zu sichern.
Die klare, kühle Vernunft galt vielen Intellektuellen in der Nachkriegszeit als Bezugsgröße, an der sie den Wiederbzw. Neuaufbau der deutschen Gesellschaft maßen. Das Gefühl war diskreditiert, seit sich die Bildungsbürger von den Nazi-Inszenierungen in Aufmärschen, bei Parteitagen und Propagandafeldzügen hatten um den Verstand bringen lassen. Bei aller Rationalität, die unbestritten die Grundlage für Bills Œuvre darstellt, darf man nicht übersehen, dass er nicht in die Falle der Ideologie geraten ist. Bill konnte auch Fünf gerade sein lassen, konkret am Beispiel seines Plakats für die Ausstellung »Pevsner Vantongerloo Bill« im Kunsthaus Zürich: Der Kreis des Bildmotivs besteht nur auf den ersten Blick aus drei identischen, streng geometrisch konstruierten Segmenten. Tatsächlich aber schließt sich die Linie an der oberen Anschlussstelle nicht, es bleibt eine unaufgelöste Spannung bestehen.
Das Herforder Museum MARTa zeigt nun eine umfangreiche Werkschau, für die Jan Hoet mit der Witwe Max Bills, der Kunsthistorikerin Angela Thomas Schmid, zusammenarbeiten konnte. Im Fokus der herausragenden Ausstellung steht der Künstler Bill, insbesondere der Maler. Mehr als 180 Exponate sind versammelt, darunter auch einige Skulpturen, Fotos, Plakate, Produkte und Drucksachen. Hoets spielerische Hängung der Bilder lässt das unerhört weite und vielfältige Spektrum von Bills Schaffenskraft eindrucksvoll erleben. Abseits aller Klischees werden die unerwarteten Aspekte des scheinbar so rationalistischen Bill deutlich wahrnehmbar. Hoet öffnet die Augen dafür, wie sehr Bill die Dinge in Bewegung brachte – nicht nur ihren Rahmen.
Anlässlich des 100. Geburtstags von Max Bill zeigen zwei Retrospektiven in Herford und Winterthur sein Werk: »Ohne Anfang ohne Ende«, bis 30. März 2008; Museum MARTa Herford; www.martaherford.de. Bis 12. Mai 2008: Kunstmuseum und Gewerbemuseum Winterthur; www.kmw.ch und www.gewerbemuseum.ch