In einer kleinen Ausstellungskoje steht auf dem Boden eine Projektionsfläche. Darauf sehen wir, in der verwaschenen Trash-Ästhetik der Videokunst, eine Gruppe älterer Menschen, die erwartungsvoll schräg nach oben schaut. Dort, an der gegenüberliegenden Wand der Koje, hängt eine weitere Leinwand; auf ihr singt ein vielleicht dreijähriges Mädchen auf die selbstvergessenrührende Art von Kindern ein Lied in die Kamera. Dann unterbricht es sich, schweigt. Worauf die Gruppe auf dem Schirm unten gegenüber einfällt und das Lied mit Innigkeit weitersingt.
Nun stellt sich die Frage, ob ein Kunstwerk Erläuterung nötig hat oder haben darf. Unerklärt wirkt die Szene auf rätselhafte Weise anrührend. Mit einer Erklärung versehen (sofern wir den Begleittext als Non-fiction akzeptieren), identifizieren wir das kleine Mädchen als die Tochter des in ein fremdes Land ausgewanderten Künstlers und die Gruppe gegenüber als die zurückgebliebene Familie, der der unvollendete Kinderliedvortrag des fernen Sprösslings in der Heimat vorgespielt wird, damit Onkel und Tanten ihn komplettieren. Und auf einmal ist die kleine Koje im Dortmunder Museum am Ostwall randvoll mit Trennungsschmerz und Sehnsucht gefüllt, markieren die zweieinhalb Meter Distanz zwischen den Leinwänden einen unüberbrückbaren Verlust. Von Heimat, Tradition, Zusammenhalt.
Der Künstler heißt Adrian Paci, wurde 1969 in Shkodër in Albanien geboren und emigrierte 1997 nach Italien. »Apparizione« heißt die 2001 entstandene Video-Arbeit, und sie markiert recht gut einen wesentlichen Aspekt im Werk Pacis, die Auseinandersetzung mit den Aporien der Migration. Thematisch ist es das Dazwischensein, das Wahrnehmen der alten wie der neuen Heimat als Fremdheit; ästhetisch ist es das Gegeneinanderausspielen von Stillstand und Bewegung, von Malerei und Video, das Pacis Werk bestimmt. Thema und Ästhetik verbinden sich. »Still moving« heißt die Dortmunder Ausstellung, die den 2005 auf der Biennale von Venedig bekannt gewordenen Albaner zum ersten Mal umfassend in Deutschland zeigt. Ja, »etwas bewegt (sich) noch«, aber in erster Linie meint der Titel wohl das bewegte Video sowie den Film- Still, der den (kleinformatigen) Malereien Pacis zugrunde liegt. So bei »Stazione Centrale« (2000), neun im Karree aufgehängten, blass ockerfarbenen Bildern, malerischen Nachstellungen von Frames eines Videos vom Mailänder Hauptbahnhof. Da herrscht Hektik: halbe Körper, verwischte Konturen; nur im Mittelbild liegt jemand (schlafend?, tot?, betrunken?) auf einer Bank – aus der Bewegung gefallen. »Still«: das Angehaltene ist sofort das Verlorene, Beziehungslose. »Moving«: Das Bewegte ist das nicht Festezuhaltende, Vergehende.
Während Pacis Bilder in ihrer Machart oft akademisch eng wirken, sind seine Videos eine Entdeckung. Etwa »Slowly«, eine Sequenz in Zeitlupe: Drei Männer sitzen redend in Hemdsärmeln um einen Tisch, eine alte Frau verfolgt ihr Gespräch mit überaufmerksamen Blicken, doch die Männer, bäuerliche Machos, beachten sie nicht. Sie aber ist in der Bildmitte, sie ist es, die man bald nur noch wahrnimmt. Dabei ist ein Musik-Geräuschgemisch zu hören, eine Musikalisierung von Alltagsgeräuschen wie beim Free Jazz von Fred Frith. Oder »Turn on«, das in Venedig zu sehen war. Es zeigt zunächst, ohne Ton, die Gesichter einiger Männer: gegerbte, müde Physiognomien, in denen dennoch, wie oft bei Menschen vom Land, eine pflanzenhafte Ruhe liegt. Dann werden nacheinander – das knatternde Geräusch bricht in die Stille des Museums – einige kleine Stromgeneratoren gestartet. Worauf die Totale in einem langen Haupt- und Schlussbild zwei Dutzend Männer still auf einer breiten Treppe unter irgendeinem Vordach sitzend zeigt, die Generatoren neben sich, eine daran angeschlossene, brennende Glühbirne in der Hand. Es sind Arbeitslose aus Shkodër, lesen wir. Aber wir sehen reglose, schweigende Menschen, neben denen ihre Hoffnung, ihr Traum, ihre Seele leuchtend schwebt. //
Bis 30. September. Tel.: 0231/50-2 32 47. www.museumamostwall.dortmund.de