TEXT: MAGDELENA KRÖNER
Alles begann mit John Cage. Nicht nur, dass der amerikanische Komponist und radikale Lautkünstler ein Buch über das Phänomen der Stille schrieb; er komponierte auch ein Stück, sein berühmtes »4.33«, das aus nichts als Stille besteht – und doch so vieles hörbar macht in der Zeit, in der eigentlich nichts zu hören sein soll.
Angeregt durch Cage hat die Kuratorin der Schau »Site of Silence«, die aus New Jersey stammende Wahl-Münsteranerin Gail Kirkpatrick, nun sieben Künstlerpositionen in ihrer kleinen, aber feinen »Kunsthalle für zeitgenössische Kunst« im Speicher II am Hafen versammelt.
Die Fragen, die die Ausstellung berühren will, sind philosophisch: Wodurch nehmen wir Stille wahr? Was macht die Stille aus? Wie fühlt sie sich an? Hat Stille einen Ort? Was löst die Stille in dem aus, der sich ihr aussetzt? Dass dieses komplexe künstlerische Fragenstellen nicht zum theorielastigen Oberseminar verkommt, ist einer ebenso sparsamen wie sorgsamen Auswahl sehr unterschiedlicher künstlerischer Positionen zu verdanken. Entwickelt wird die Grundidee anhand eines dialektischen Vorgehens, welches Stille, Ruhe und Verharren nicht einfach nur vorführt, sondern im Gegenteil einen Chor an Stimmen versammelt, die das Phänomen »Stille« einkreisen, konterkarieren oder es lautstark überlagern und dadurch hörbar machen.
Zunächst begegnet man den raumgreifend installierten Stimmen, die der in Münster lebende Künstler Stefan US gesammelt hat. Sie verschaffen sich schweigend Gehör. Aus einer Rotunde ragen Stoffkabinen in den Raum hinein, Beichtstühlen ähnlich. Tritt der Besucher unter den schwarzen Vorhang, der ihn wie einen Umhang umfängt, gelangt er direkt vor eine Schrifttafel, auf der Menschen von ihren Erfahrungen mit Krach und Stille berichten. Das gesprochene Wort, vom Künstler als Text auf Papier fixiert, hallt im Kopf wieder, sich selbst vorgelesen von der eigenen, für andere nicht hörbaren Stimme, unterbrochen nur vom eigenen Atem. Das war es dann also mit der Stille, oder, um es mit den Worten eines der vom Künstler Befragten zu sagen: »Stille ist ein theoretisches Geräusch«. Stephan US zeigt: Manchmal ist die Stille nur eine Wunschvorstellung, die vom Menschen auf der Suche nach ihr durchbrochen wird.
Mit einer physisch erfahrbaren Unterbrechung der Stille arbeitet ebenfalls die wohl lauteste Arbeit dieser Ausstellung: »passant« von der in Tokio geborenen Künstlerin (und Professorin an der Kunstakademie Münster) Suchan Kinoshita. Alle 30 Minuten lässt Kinoshita – zumindest akustisch – den New Yorker »6« Express Train mit ohrenbetäubendem Lärm und einer scheinbar fühlbaren Erschütterung des Bodens durch den Raum fahren. »Passant« versetzt den Besucher nicht nur unmittelbar – wenn auch nur für die paar Sekunden, die der Zug die Kunsthalle zu durchfahren scheint – an einen gänzlich anderen Ort, sondern macht vor allem nach dem Abebben des zuvor erzeugten Lärms in extremer Weise die sich einstellende Ruhe erlebbar. Kinoshitas Arbeit führt ebenso schlicht wie eindrucksvoll vor, wie Stille in einer Wechselwirkung entsteht: als Abwesenheit von Etwas. Sie ist ein physisches Ereignis, ist aber zugleich auch vom subjektiven Erleben abhängig.
Stille kann aber ebenso eine Verfasstheit sein, eine Gestimmtheit des Gemüts, ein Gefühl – wie die Videoinstallation von Yehudit Sasportas zeigt. Im Dunkel des Projektionsraumes entsteht eine schemenhafte Winterlandschaft, die sich immer nur kurz wie ein Traum aus dem Dunkel des bewusstlosen Schlafens heraushebt, um gleich darauf wieder in der Finsternis zu versinken.
Stille als Bedrohung, Zwang und Verschließen zeigt der Belgier Kris Martin in seiner mittlerweile berühmt gewordenen Kugel »100 Years«, die zugleich ein Sinnbild der perfekten, in sich geschlossenen skulpturalen Form darstellt, aber im Inneren einen Zündmechanismus verbirgt, der an einem festgelegten Zeitpunkt das Kunstwerk zerstört. »100 Years« hinterfragt die hermetische Präsenz des Objektes und integriert zugleich ein Element des Bedrohlichen in die Unversehrtheit des White Cube. Für die Arbeit »Bells« hingegen wurden zwei bronzene Glocken wie siamesische Zwillinge aneinandergeschweißt: perfekt in ihrer Verdopplung, aber ihrer Funktion beraubt. Die Paarung als zwangsläufiges, aber lustvolles Ausschalten der eigenen Existenz?
Eine ebenfalls bezwingende Vanitasdarstellung gelingt Martin mit der Fotoserie »Spatium«. Der Blick in den Schädel eines Mönches aus dem 13. Jahrhundert tastet jedoch tatsächlich die Spuren eines Gehirns ab, die dieses an der Schädelwand hinterlassen hat: die Krater, Furchen, Wasserläufe, die einst die Heimat von Gedanken, Gefühlen – menschlicher Identität – waren und vom Künstler heute vermittels fotografischer Technik als topografisch anmutende Oberfläche erfasst werden können. Trotz aller Präzision des Aufnahmeverfahrens ist es jedoch unmöglich, jemals einen Zugang zu dem längst verstorbenen Menschen erlangen zu können; zu dem, was ihn als Person ausgemacht, was ihn geängstigt oder begeistert hat. Die Schädellandschaft wird zur abstrakten Bildsetzung – »Spatium« ist die wohl irritierendste, stillste Arbeit dieser Ausstellung. Ebenfalls an objektiv messbaren, physikalisch-optischen Gesetzen und minimalistischen Grundformen orientiert sich die Installation »Counter Shadow« der Niederländerin Germaine Kruip. Vier scheinbar zusammenhanglose Metallelemente schweben vor einer Wand und werden von einem Scheinwerfer beleuchtet. Erst der ephemere Schattenwurf stellt dabei so etwas wie eine innere Logik her – scheinen doch die Schatten der Elemente auf der Wand ein Quadrat abzubilden.
Die Stille als physische Realität interessiert Christian Geißler, der vom Balkon des Speichers in regelmäßigen Abständen Wassertropfen regnen lässt. Was gedacht ist als schwerelose und flüchtige Simulation einer Naturerscheinung, die vom Wind verweht wird, produziert allerdings gelegentlich deutlich hörbare Tropfgeräusche, wenn nämlich die Tropfen bei Windstille auf die Motorhaube eines zufällig unter dem Balkon geparkten Autos fallen. So ist rasch Schluss mit Stille – ein Moment eher unfreiwilliger Komik, die die Stille recht schnell und unsanft in der tönenden Realität ankommen lässt.
Unberührbarer gibt sich Andreas K. Schulzes Miles Davis gewidmete Arbeit »SHHHSHHHHSHHH«: »Wort« und Geräusch, als Buchstaben aus bemalten Baumwollquadraten auf die Wand geklebt und so zugleich Aufforderung und minimalistisches Wandgemälde.
Wer daraufhin die Halle verlässt – aber bitte leise!! –, den holt die Stille auf dem Weg nach unten noch einmal ein, in Gestalt von Stefan US’ ebenso komischem wie hintergründigem »Archiv des Nichts«, welches sich einer überaus ironischen Katalogisierung und Archivierung des »Nichts« widmet. Hier wird die Stille zum »Nicht-Phänomen«, und die Spuren, die sie hinterlässt, ergeben ein vielgestaltiges Ganzes – welches wiederum das genaue Gegenteil von »Nichts« ist, nämlich: eine überbordende, gnadenlos subjektive Tour de Force durch die jüngere Pop- und Kulturgeschichte, mit jeder Menge Zitaten aus Literatur, Kino, Musik, Werbung und Alltagsdesign. Von Kafka bis Hunter S. Thompson finden sich Zitate zur Stille, Musik aus Jim Jarmuschs »Dead Man Walking«, Lexikoneinträge zum Thema, Martin Walsers »Verwaltung des Nichts« neben einer DVD des Films »Das Schweigen der Lämmer«. Das Schweigen als kulturhistorischer Topos. Hier legt der Künstler den Grundstein zu einem potentiell unendlichen Archiv, mit zahllosen Querverweisen, Abgründen und Fallstricken, die zeigen: die Stille, obwohl sie jeder zu kennen glaubt, und sie überall aufzutauchen scheint, lässt sich gar nicht so leicht dingfest machen. Vor allem ist sie eine unberechenbare Gesellin des Alltäglichen, mit den unterschiedlichsten Gesichtern. Geneigte Besucher können ihre eigenen »nichtigen« Momente oder Augenblicke der Stille einspeisen ins Internet unter: www.archiv-des-nichts.de. Wem auf diesem sinnlichen, überraschenden und abgründigen Parcours entlang eines schlicht unfassbaren Phänomens die vielstimmige Stille dann doch zu viel geworden sein sollte, für den hat der Künstler Ohropax bereitgelegt.
»Site of Silence« in der Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster bis zum 27.9.2009. www.muenster.de/stadt/ausstellungshalle