TEXT: MARTIN KUHNA
Wie wird man Dorfforscher? Gerhard Henkel ist selbst in einem Dorf aufgewachsen und lebt auch heute dort: Fürstenberg bei Paderborn. Mit 18 Jahren aber, 1961, war er schon ganz froh, dem Dorf zu entkommen, um Geografie und Germanistik zu studieren. In der Historischen Geografie waren damals mittelalterliche »Wüstungen« ein großes Thema. Viele solcher Wüstungen gab es im »Sintfeld« bei Paderborn – Heimat des Studenten Henkel. 42 mittelalterliche Orte, die »um 1400 fast alle weg« waren; Flucht vor mörderischen Fehden. So ergab es sich, dass Henkel mit einer Arbeit über dieses Thema 1971 promoviert wurde.
Was der Doktorand Henkel nicht wusste: Während er sich durch Archive wühlte, war seine dörfliche Heimat von einer neuzeitlichen, ganz realen »Verwüstung« bedroht: Raumordnung im Geist der Zeit. Das Thema sollte ihm sehr bald begegnen. Denn mehr als Archivarbeit interessierte ihn der zeitgenössische Strukturwandel auf dem Land. Als in einem Arbeitskreis »mal wieder über Wüstungen diskutiert« wurde, forderte Henkel, man möge sich um die Gegenwart kümmern und eine »Anwaltsfunktion« für die ländlichen Siedlungsformen übernehmen. Denn inzwischen hatte er planende Experten als tödliche Gefahr für das Dorf ausgemacht: »Alles Schlechte kommt von außen.«
»Das Dorf« schildert ausführlich die Entwicklung der deutschen Dörfer und den erheblichen Wandel, den sie schon seit etwa 1800 durchlaufen hatten. Dennoch erscheint die frühe Nachkriegszeit um 1950 als Zäsur. »Bis 1950«, heißt es immer wieder. Bis dahin, so schließt man, waren die Dörfer noch so, wie sie um 1900 gewesen waren. Höfe und Vieh im Ortskern. Hühner auf der Straße. Schweinemast im Wald. Kirche, Handwerker, Läden, Dorfkneipe. Und dann wurde rasend schnell alles anders.
In deutschen Dörfern, sagt Professor Henkel, habe es ein Modernisierungsdefizit gegeben, das durch Krieg und Nachkrieg bis etwa 1950 andauerte. Das Unmoderne habe keineswegs nur idyllische Seiten gehabt: schlechte Bausubstanz, fehlender Wohnkomfort ohne sanitäre Einrichtungen, keine Infrastruktur wie etwa Kanalisation. Es habe also einen »Modernisierungsschub« gebraucht. Ein großes Problem der Landwirtschaft seien unzureichende Betriebsgrößen durch fortwährende Zersplitterung gewesen.
Die notwendige »Flurbereinigung« aber kam daher wie ein trojanisches Pferd. Innendrin steckten schon die harmlosen Begriffe »Auflockerung« und »Sanierung«. Sie verbanden sich bald zu einem massiven Angriff auf gewachsene Dorfstrukturen überhaupt, zu »Entkernungen«, »Flächensanierungen«, massenhaftem Abriss. Das Gleiche wie in den Städten, einschließlich überdimensionierter Straßenschneisen: »autogerechtes Dorf«. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung um 1970, als sie auch nach Gerhard Henkels Heimatdorf Fürstenberg und dem Nachbardorf Haaren griff. Die beiden Gutachten der »Landesentwicklungsgesellschaft« stehen beim Professor im Bücherregal.
Irgendwelche Qualität hatten die Gutachter in den Orten nicht wahrgenommen: »gibt es nicht«, heißt es mehrfach. Arrogant und gnadenlos fällten die Experten ein vernichtendes Urteil, in nahezu angewidertem Ton. In seinem Buch zeigt Henkel zwei Karten aus diesen Planungen. »Haufendorf Haaren« steht jeweils darüber, und selbst der ostentative Gebrauch des wertneutralen Fachbegriffs an dieser Stelle scheint Abscheu zu signalisieren. Links sieht man die haufendorftypisch verstreuten alten Häuser, rechts einen Neuentwurf, nicht symmetrisch, aber wohlgeordnet, in dem kaum Altes erhalten ist. Das zugehörige Modellfoto zeigt einen Ortskern, der sich nicht von damaligen betonlustigen Trabantenstädten unterscheidet, bis auf die arme Dorfkirche mittendrin.
Auch für Gerhard Henkels Fürstenberg hat es diese Pläne gegeben. Gern führt er Besucher in das Dorf: gut 2500 Einwohner. Keine Puppenstube. Altes mischt sich mit Neuem. Manche Bauernhöfe sind längst, mit mehr oder weniger Geschmack, umgenutzt. In der Ortsmitte, wo das Dorf am schönsten ist, beschreibt Henkel mit einer Handbewegung den einst geplanten Verlauf einer breiten, wiewohl nicht einmal wichtigen Straße: Allein dafür hätten mehrere Häuser abgerissen werden müssen. »Die stehen jetzt alle unter Denkmalschutz« – und bilden, neben dem Schloss, Fürstenbergs identitätsbildenden Kern. Die wahnwitzigen Sanierungspläne von 1970 sind, wie im Nachbardorf Haaren, weitgehend Theorie geblieben. Bürger hatten protestiert. Seine Studenten, sagt Professor Henkel, hätten nie begreifen können, wie Leute mit Verstand je derartige Pläne produzieren konnten.
Das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 habe erstmals ein Umdenken gezeigt, sagt Henkel. Das war genau die Zeit, in der er selbst sich mit dem Thema ernsthaft zu befassen begann und aktiv wurde. Unter anderem gründete er mit Kollegen den »Interdisziplinären Arbeitskreis Dorfentwicklung«, der seit 1978 alle zwei Jahre zum »Dorfsymposium« in Bleiwäsche lädt, das ist ein Nachbardorf Fürstenbergs. 1973 ging Henkel an die neue Essener Gesamthochschule. Die Atmosphäre dort sei für neue Ansätze in seinem Sinn sehr fruchtbar gewesen. Zudem seien im Ruhrgebiet ganz ähnliche Initiativen gegen »Sanierung« vermeintlich wertloser Siedlungen entstanden wie auf dem Dorf.
Nicht überall kam das Umdenken noch rechtzeitig. Durch die brutalen Sanierungspläne, so schreibt Henkel, hätten »die deutschen Dörfer in den 1960er und 1970er Jahren einen Großteil ihrer überlieferten Bausubstanz verloren«. Außerdem war Mitte der 70er Jahre ein Prozess noch in vollem Gange, der mit jener Sanierungsideologie eng verknüpft war: Gebietsreform. Sie beruhte, sagt Henkel, auf dem »Zentrale-Orte-Konzept«, entwickelt ausgerechnet für die nationalsozialistische Überplanung eroberter Ostgebiete. Dieser Behauptung einer quasi natürlichen Bedeutungs-Hierarchie sei nach 1950 die Weihe wissenschaftlicher Erkenntnis verliehen worden, »obwohl das mit Wissenschaft nichts zu tun hat«. Das bekannte Ergebnis: Die meisten Dörfer, so auch Fürstenberg, sind de jure gar keine mehr, sondern Teile einer künstlichen Großgemeinde oder »Stadt«.
Der Verlust lokaler Selbstbestimmung ist für Henkel ein erheblicher Verlust funktionierender Demokratie zugunsten einer »Fernsteuerung« von oben nach unten. Dieser Verlust beschränkte sich nicht nur auf Rathäuser und Verwaltung. Bildungsreformer erklärten die kleine Dorfschule grundsätzlich zum Inbegriff der Rückständigkeit: weg damit. Die Bundesbahn verfolgte ihr eigenes Zentrale-Orte-Konzept, legte Bahnhöfe und ganze Strecken still. In jüngerer Zeit folgte die Post. Und bis heute kapitulieren in Dörfern der letzte Bäcker, der letzte Metzger, der letzte Kramladen und die letzte Kneipe vor dem scheinbar unausweichlichen Zwang zur Zentralität. Selbst die christlichen Konfessionen lassen neuerdings zwar die Kirche im Dorf, verlegen aber Gottesdienste an »zentrale Orte«.
Dorfforscher Henkel erwähnt das alles zur Genüge in seinem Buch. Er räumt auch ein, dass vielerorts Häuser leer stehen, weil Höfe und Handwerksbetriebe aufgegeben wurden. Dass junge Leute ihre Dörfer in Richtung Stadt verlassen. Doch dass es mit dem Dorf auf breiter Front zu Ende geht, glaubt er nicht. Die anhaltende Begeisterung fürs Landleben, abzulesen am unglaublichen Erfolg einschlägiger Magazine, hält er nicht für bloße Spinnerei gelangweilter Städter. Das Dorfleben habe eindeutige Vorteile – und tatsächlich kämen heutzutage viele der weggezogenen jungen Leute nach ein paar Jahren wieder.
Den entscheidenden Vorteil sieht Henkel in der Gemeinsamkeit, dem Zusammenhalt. Mit diesem Potenzial habe eigentlich jedes Dorf die Chance, sich positiv zu entwickeln. Vereinsleben, Sportangebote, auch Kultur gebe es in vielen Dörfern reichlich. Gleichzeitig sei es im Dorf längst nicht mehr so eng wie früher. Spätabends noch ins Kino gehen, in Paderborn nämlich, das sei für die jungen Leute in Fürstenberg heute selbstverständlich. Die meisten Dorfbewohner verreisten regelmäßig. Beruflich pendeln ohnehin fast alle in andere Orte, ob alteingesessen oder zugezogen. Das alte, autarke Dorfdasein ist zwar für immer dahin. Aber die Arbeitslosigkeit, sagt der Professor, sei in vielen sauerländischen Dörfern weit geringer als in Städten, weil mittelständische Betriebe sich oft in ländlichen Regionen halten oder auch neu ansiedeln.
Über den typischen Zusammenhalt sei es auch möglich, die Dorfentwicklung bewusst voranzutreiben. Initiativen und Vereine übernähmen dann informell die Rolle der einstigen Dorfräte. Wenn es hart auf hart komme, hätten solche Initiativen auch schon letzte Bastionen des Dorflebens gerettet: die Kneipe, den Kramladen, auf ehrenamtlicher Basis weitergeführt. Man rettet verfallende Häuser und findet neue Nutzungen, man versucht, »stadtplanerische« Sünden früherer Jahre halbwegs zu korrigieren. Kämpft für eine neue Dorfschule.
Natürlich, gibt Gerhard Henkel zu, hänge der mögliche Erfolg auch von der Größe eines Dorfes ab und von der Lage: Zu nah an einer Stadt wird man zu leicht verschluckt. Zu weit ab von allem ist es auch schwierig. Aber Beispiele für wirklich gescheiterte, sterbende Dörfer in Nordrhein-Westfalen sind ihm nicht zu entlocken. Wer sehen möchte, wie Dörfer sich in den letzten Jahren um Entwicklung bemüht haben, sollte sich »Gold- und Silberdörfer« anschauen, in der Paderborner Gegend, im Sauerland, am Rhein. Der einst als Blümchenschau belächelte Schönheits-Wettbewerb heißt heute »Unser Dorf hat Zukunft«. Die Ergebnisse sind durchaus unterschiedlich. Aber wer sich über dörfliche Spießigkeiten erheben will, sollte bedenken: Das sind nicht selten Reparaturversuche an Entstellungen, die den Dörfern einst von schlauen Städtern aufgedrängt wurden. Es schadet nicht, vor der Entdeckungstour »Das Dorf« zu lesen.
www.dorfwettbewerb.de. Gerhard Henkel: Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute; Konrad Theiss Verlag, 49,95 Euro