ECHT KÖLNISCH WASSER
KARIN BEIERS JELINEK-TRILOGIE MIT DEM »STURZ«
Vom Schluck Wasser zur Sintflut. Zuerst sind auf einem Dutzend Tischen der Bühne des Kölner Schauspielhauses (Johannes Schütz) Batterien von Mineralwasserflaschen und Plastikbechern angerichtet. Am Ende, nach drei Stunden, steht die Bühne knöcheltief unter Wasser. Lehmig gelbe Brühe quillt aus einem Loch – in seiner Länge und Breite offen wie ein Grab. Köln geht baden, während sich die Stadtoberen nicht nass machen und ihre Hände in Unschuld waschen – und Karin Beiers fabelhaftes Ensemble das große Plantschen veranstaltet. Ein Katastrophen-Slapstick, denn das Unglück ist auch ein fauler Witz. Mit Elfriede Jelineks »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz« erreicht auch die Uraufführungs-Regisseurin wiederum neue Ufer.
»Das Werk« untersucht Beier wie in einem Wasserlabor. Eine Putzfrau mit Singstimme (Rosemary Hardy) wischt und wringt. Damen der Gesellschaft formieren sich bei Trockenübungen zum Wasserballett. Einige Mitwirkende tragen lustige Kinder-Comic-Masken von Heidi und Peter. Die angespitzten Männer brüsten sich als Homo faber mit Ingenieurs-Verstand und -Ehrgeiz. Und unaufhörlich umspielt und umspült der gebändigte Text das szenische Arrangement: mal Oratorium, mal Dadamax-Revue, Hearing oder Kolloquium mit Tiraden des männlichen Rudelwesens (Thomas Loibl, Michael Weber, Manfred Zapatka) sowie einem zierlichen Monolog von Susanne Barth als Jelinek-Stellvertreterin.
Dann eine Zäsur – Vorwärts in den furiosen Mittelteil. Marx und Mao führen die Rotfront an. Auf dem Dancefloor Bühne bewegen sich zuckend Robotniks zu stanzenden Rhythmen. Eine halbe Hundertschaft Choristen marschiert ein, aufgerüstet mit Megaphonen. Das Arbeiterheer nimmt einen Schluck aus der Pulle, spült gut durch, stimmt Goethes »Gesang der Geister über dem Wasser« an und lässt das Revolutionspathos sich brechen an den Widerständen der Dekonstruktion. Auf der Baustelle Geschichte, die Kaprun hier markiert und die Karin Beier zum apokalyptischen Feld umpflügt, hält der Tod Ernte. Gerade noch rief eine Trauernde nach ihrem toten Liebling und kreideweiße Mütter bilden Pietà-Figuren, da walzt ein grell geschminktes Terzett herein und legt eine Fastnachtsbeichte ab. Ihr Situationsbericht vom »Bus«-Einbruch in einen Schacht lässt die drei Malocher vom Bau zu unfreiwilligen Totengräbern werden.
So wechseln bis zur Pause Stimmungsbögen vom Weichgespülten zum Gehärteten, vom leichtfüßig Soubrettenhaften zum massiven Einsatz – und sind in jeder Facette scharfsinnig, beklemmend virtuos, souverän und wirkungssicher geführt. Es folgt der »Sturz«. Wo sich bei Jelinek die Wehklag zur mythischen Travestie auflädt, entspannt sie sich bei Beier fast zur reinen Farce: die Katastrophe als kölsche Büro-Satire. Behördenmenschen schleppen zwischen Abfallprodukten der Bürokratie Akten, öffnen Laptops, machen Kaffeepause. Nur ein Wesen wie vom anderen Stern huscht aufgescheucht unter den Amtsträgern. Die Schauspielerin Kathrin Wehlisch hat sich mit Modder verschmiert und – nackig, schwefelgelb, gehörnt – in die Erde verwandelt. Vom närrischen Menschenbetrieb aufgestört, wird der Irrwisch sich bei einem spritzigen Kopulationstanz dem Wasser in Gestalt eines muskulösen Aquarius hingeben. Automatenstimmen aus Computer, Telefon und Radio übernehmen die Textpartien: Die indirekte Rede bleibt unsichtbar und ungreifbar wie die Verantwortung. Das System hat sich verselbstständigt. Während menetekelnd ein Rinnsal Sand von oben herab rieselt, flutet der Bühnenboden. Man fischt im Trüben, um Papiere zu sichten und zu trocknen. Ein Presslufthammer bohrt sich ins Gemüt. Die Vermessenen als die Begossenen arbeiten an ihrer Selbstvernichtung. Eine Glocke lässt das letzte Stündlein schlagen. Die Wasserschlacht kennt nur Verlierer – bis auf das Theater. Ein künstlerischer Um-»Sturz«. | AWI
PUPPET ON THE STRING
IBSEN I: IM THEATER OBERHAUSEN WIRD »NORA« ZUGESPITZT
»… oder Ein Puppenhaus«: Den Titel wörtlich nehmend, dreht sich Nora als Ballerina im Babydoll und mit plustrigem Rothaar auf giftgelbem Boden der Oberhausener Bühne, die bis auf eine grellgrüne Tannenbaum-Silhouette leer und von bürgerlichem Inventar verschont bleibt. Nora gehört ganz ins 19. Jahrhundert. Aber diese hier nicht in ein Salonstück und realistisches Seelendrama. Sie entstammt vielmehr der Schauerromantik – und ist darin ein klinischer Fall. Eine domestizierte Shockheaded Petra, die Manja Kuhl gespreizt, geziert und überreizt zum manischen Wesen in Tüll und Opfer einer vampiristischen Umgebung auf die Spitze treibt.
Man wartet nur darauf, dass E.T.A. Hoffmanns Automatenhersteller Coppelius, der zusammengenähte Boris Karloff oder Frankensteins Braut aus den Kulissen treten. Das tun stattdessen drei blutlose Herren im Bratenrock. Torvald Helmer (Torsten Bauer), der seinem Namen alle Ehre machende Dr. (K)Rank (Henry Meyer) und der Finanz-Filou Krogstad (Jürgen Sarkiss) pfeifen als lebende Leichen schon aus dem letzten Loch. Was sie nicht hindert, sich sadomasochistischen Lüsten, Triebregungen, Ersatzhandlungen sowie Küssen als Lecker-Bissen hinzugeben und sich eifrig an der Projektionsfläche Nora zu reiben. Es ist halt immer wieder pure Freud’, die Wiederkehr des Verdrängten zu erleben.
Mit dem Bankgeheimnis und der Ehe-Lüge, aus denen das Stück sich seine Spannung holt, ist Herbert Fritsch schnell fertig. Er inszeniert Ibsen, indem er ihn als Kostümschinken aufkocht und ins flackernde Phantasiereich der Sexualneurosen bannt: ein Tim Burton des Stadttheaters. Wobei die männlichen Charakter-Schablonen auch Wiedergänger von Fritsch selbst sind, dem Anarcho-Neurastheniker, Chaos-Clown und Volksbühne-Freak. Gegen das Erweckungsdrama weiblichen Selbstbewusstseins putscht die formal konsequente, darstellerisch gut getrimmte Psychokasperei mit Bernard Herrmanns suggestiver Musik, die der für Hitchcocks nekrophilen Liebesthriller »Vertigo« komponiert hat. So erzählt sich eine finster-lustige Weihnachtsgeschichte, in der schließlich der Christbaum abgefackelt wird. Nora endet als Sterntalerkind, beäugt von ihrem untoten Männer-Trio. Die wird sie nicht los. Mit ihrer Selbstbefreiung ist es nicht weit her. Alles andere wäre auch ein Märchen gewesen. | AWI
HEDDA, GET YOUR GUN!
IBSEN II: DAS THEATER BONN LÄSST FRAU GABLER IN SCHÖNHEIT STERBEN
Wie eine Barbiepuppe tritt Hedda Gabler, blond, langbeinig und grazil, auf und lässt bald schon ahnen, dass sie das Zeug zur Lulu hat. Zwar kann sie das »schöne, wilde Tier« nicht ganz herauslassen, doch kennt sie ihre erotischen Reize und versteht es, sie einzusetzen. Die Männer wickelt sie um die Finger, ohne sie sich zu verbrennen.
Machtspiele: Vor dem Richter Brack legt sie sich sogar auf den Rücken und macht die Beine breit, so dass der – schmierig und im offenen Hemd: Wolfgang Maria Bauer – den Schwanz einzieht und sich davon stiehlt; Eljert Lövborg, ihren Liebhaber aus Jugendjahren, den Ralf Drexler als verschlamptes Genie hinstellt, bringt sie mit Schnaps zurück auf die schiefe Bahn, bis er sich ins Geschlecht schießt; und Jörn Tesman, das ihr angetraute Tantensöhnchen (von Germain Wagner, jovial und schusslig, zur Woody-Allen-Kopie aufgedreht), kriegt sowieso nichts mit von ihrer Einsamkeit.
Wo also soll Hedda Gabler hin mit ihrer Wut und ihrer Langweile, die sie einmal kurz am Klavier austobt? Was bleibt ihr in dem hellen Wohnraum, den Fred Fenner in den Godesberger Kammerspielen des Theaters Bonn mit leeren weißen Regalen zum Ikea-Käfig ausgebaut hat, anderes übrig, als sich die Kugel zu geben?
Großes Finale: Sie steigt auf das Dach der überhohen Bücherwand, setzt sich die Pistole an die Schläfe, drückt ab und bleibt – ein Tod in Schönheit – ausgestreckt liegen.
Kalt, scharf und direkt spielt Katharina von Bock die raffinierteste Frauenfigur des Henrik Ibsen. Die Inszenierung von Klaus Weise, der dem alten Stück eine saloppe Fassung verpasst, schiebt es in die 1960er Jahre. So kann es bei dem im Publikum stark vertretenen reiferen Jahrgängen auf beste Erinnerungen treffen. In ihrer Mischung aus Kindfrau, kaltem Engel und Megäre bewahrt sich die Bonner Hedda ein Geheimnis und damit auch ein Interesse, wie es die ausgefransten Ränder und hyperaktiven Füllsel der Aufführung nicht beanspruchen können. | ARO
SINFONIE DES GRAUENS
FRANZ SCHREKERS »IRRELOHE« AN DER BONNER OPER
Eine Pioniertat: Die Bonner Oper hat Franz Schrekers lange vergessene »Irrelohe« als Schlüsselwerk der Moderne wiederentdeckt. In der Nazizeit als »entartet« gebrandmarkt, ging auch die Renaissance der frühen Schreker-Opern wie »Die Gezeichneten« an der 1924 entstandenen »Irrelohe« vorüber. Kein Zufall, dass dies in Bonn geschah, denn Intendant Klaus Weise und sein Generalmusikdirektor Stefan Blunier haben die Pflege des selten gespielten Repertoires aus dem frühen 20. Jahrhundert zum Programm erklärt und bereits in der letzten Spielzeit mit Eugen d’Alberts »Golem« einen Rarität herausgebracht.
Schrekers Oper erzählt eine zwischen Schauerromantik und Erotikthriller schillernde Geschichte. Das Grafengeschlecht Irrelohe steht unter einem Fluch: Die männlichen Nachkommen fallen zwanghaft über Frauen her und werden wahnsinnig. Vor dreißig Jahren war es die Schankwirtin Lola, die vom Grafen vor den Augen der Dorfgemeinschaft vergewaltigt wurde. Ihr Sohn Peter, der nichts weiß von seiner gewaltsamen Zeugung, ist ein gehemmter Außenseiter. Fatalerweise liebt er die Försterstocher Eva, hinter der auch der junge Graf Heinrich (Peters Halbbruder) her ist.
Allesamt zerrissene, traumatisierte, schuldhaft verstrickte Figuren, die Schreker unter dem Einfluss der noch jungen Psychoanalyse formte. Auch in der dumpfen Dorfgemeinschaft rumort Gewaltbereitschaft und herrscht kollektives Verschweigen. Schrekers Musik – von sinnlicher Wucht und dicht an den Protagonisten, ihren Ängsten und dämonischen Trieben – kann spätromantisch blühen oder schneidend dissonant tönen. Manches erinnert an Wagner, anderes an Filmmusik der großen Hollywood-Zeit. Blunier bändigt den monströsen Orchesterapparat souverän und lässt Schrekers fiebrige Ekstasen glühen. Martin Kukulies hat im Bühnenhintergrund ein schemenhaftes Schloss errichtet, das den Horror des expressionistischen Kinos und seiner Sinfonien des Grauens zitiert. Klaus Weise setzt ebenfalls auf filmische Effekte und lässt Schrekers sogartige Musik wirken. Auch sängerisch exzellent, erleben wir eine exemplarische Aufführung. | REM
PRINZENSCHMERZ
»H.A.M.L.E.T. – DIE GEBURT DES ZORNS« VON XIN PENG WANG in Dortmund
Die Frage zählt zu den schönsten Rätseln der Theatergeschichte: Hat Hamlet als einziger am Hofe die Wahrheit geschaut oder ist er ein Wahnsinniger? In Dortmund inszeniert Choreograf Xin Peng Wang die Tragödie vom den Vater rächenden Prinzen mysteriös wie einen Albtraum. Ophelia tänzelt von Anfang an so entrückt auf Spitze, als wäre sie längst schon in eine andere Welt geflohen. Der Hofgesellschaft flattern hysterisch die Hände, man zieht die Körper zusammen, als schwante bereits das todbringende Unheil. Und Hamlet rast rückwärts über die Bühne, als schleife ihn ein unsichtbarer Dämon.
Schon mehrfach wurde der Stoff für den Tanz adaptiert, aber einen wirklich bahnbrechenden Ballett-Hamlet gibt es bislang nicht. Xin Peng Wang versucht nun gar nicht erst, aus Shakespeares Werk die großen philosophischen Fragen nach Schuld und Moral zu destillieren. Er führt mit seinem Ballett in das Illusionsreich einer überreizten Psyche. Gemeinsam mit seinem musikalischen Leiter Motonori Kobayashi hat Wang Kompositionen von Arvo Pärt sehr gelungen kompiliert, so dass eine metaphysisch-verklärte Klangwelt, live gespielt von den Dortmunder Philharmonikern, Hamlets Höllentrip ins Zeitlos-Schöne überhöht.
Wangs Ballett-Ensemble tanzt souverän, die Choreografie konzentriert sich auf kraftvollen Männertanz, Mark Radjapov als Hamlet überzeugt mit formbewusster Melancholie. Allein, die ästhetisch-geschmackssichere Contenance ist auch das Problem der Inszenierung. Ein bisschen mehr Gefühls-Gebeutel hätte diesem Hamlet gut getan, auf die angekündigte »Geburt des Zorns« wartet man ebenso vergeblich wie auf das das Drama beschließende Blutbad. Beim Chinesen Wang zähmt die Leidenschaft ein dumpfer Schmerz. Von Shakespeares Rebellion eines tragischen Außenseiters bleibt nur ihr kühles Gegenmodell: die Resignation. | NIS